Deutschlands soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr. Das schreibt Marcel Fratzscher in seinem neuen Buch "Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird". Wer schon viel habe, kriege noch mehr. So bleibe Reich reich und Arm arm, erklärt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Marcel Fratzscher ist einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Der 45-Jährige lässt sich nicht klar dem rechten oder linken ökonomischen Lager zuordnen. Sein Buch ist daher eine überraschende Generalabrechnung mit dem deutschen Wirtschaftsmodell: "Das Buch zeigt letztlich auf, dass wir an unserem Ideal, der sozialen Marktwirtschaft, gescheitert sind", sagt Fratzscher. Wohlstand für alle - nach dem Credo von Ludwig Erhard - gebe es nicht: "Wir schaffen Wohlstand für wenige". Das sei den meisten Deutschen nicht bewusst.
Der Glaube an den deutschen Wohlfahrtsstaat sei nach wie vor groß. So war es auch bei ihm - bis zu seiner Recherche für das Buch. "Wenn man Menschen diese Zahlen, diese Fakten zeigt, dann glauben sie einem zuerst nicht, dann sind sie schockiert, wenn sie das wirklich schwarz auf weiß sehen."
Tabellen und Grafiken mit Datenmaterial finden sich viele in Fratzschers Buch. Damit stützt der Ökonom seine Thesen - etwa, dass die Vermögen und Einkommen der ärmeren und reicheren Bevölkerungsgruppen in Deutschland immer weiter auseinanderdriften. Die Politik würde die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft vergessen, sagt der Autor: "Die fehlende Chancengleichheit war in Deutschland nie größer als heute. Die wirkliche Chance, sich besser zu stellen, sich nach oben zu arbeiten, durch eine gute Bildung und Anstrengung das zu schaffen, das gilt heute viel viel weniger als noch vor 20 und vor allem als vor 40, 50 Jahren."
Aus seiner sozialen Schicht herauszukommen, sei heute fast unmöglich - besonders für die unteren 20 Prozent. Wie viel jemand später mal verdiene, hänge in Deutschland - entscheidender als in anderen Industrieländern - vom Einkommen und Bildungsstand der Eltern ab: "Wir haben eine ganz geringe soziale Mobilität. Arm bleibt Arm, Reich bleibt reich", sagt Fratzscher.
Dazu schreibt der Autor in seinem Buch: "Nirgendwo schaffen weniger Kinder den sozialen Aufstieg. Nirgendwo gehen weniger Arbeiterkinder zur Universität. Nirgendwo verbleibt Reichtum so oft über Generationen hinweg in denselben Familien. Und das schadet diesen Einzelpersonen, der Wirtschaft, der Gesellschaft und Demokratie im Lande, kurzum: uns allen."
Schuld an der wachsenden Ungleichheit in Deutschland sei auch das ineffiziente deutsche Steuer- und Umverteilungssystem. Der deutsche Staat verteile zwar viel um, das müsse er aber besser machen, so Fratzscher: "Das Geld, das oben eingenommen wird von den Steuern, kommt ja nur selten wirklich den Menschen unten zugute. Wir verteilen um von oben nach oben." Also innerhalb der Ober- und Mittelschicht.
Der Ökonom fordert, dass Deutschland mehr in die frühkindliche Bildung investiert: in Kitas, Kindergärten und Schulen. Das schaffe Chancengleichheit, auch für Kinder aus sozial schwachen Familien. Aber: "Wir sind dabei diese Weichenstellung völlig zu verpennen, völlig zu verpassen", so Fratzscher.
Das sei auch gefährlich für Deutschlands Wirtschaftswachstum. Fratzscher verweist auf die OECD. Die hat berechnet, dass die wachsende Ungleichheit die Bundesrepublik allein zwischen 1990 und 2010 sechs Prozent ihres Wirtschaftswachstums gekostet hat.
Mit seinem Buch "Verteilungskampf" will Fratzscher eine politische und gesellschaftliche Diskussion anregen. Das könnte ihm gelingen, gerade in einer Zeit, in der die AfD in einen Landtag nach dem anderen einzieht. Laut einer Umfrage des Instituts Infratest Dimap für die ARD gaben die Wähler der Rechtspartei als zweitwichtigstes Thema für ihre Wahlentscheidung die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland an.
Einige Thesen von Fratzscher sind steil. Sie halten lediglich, weil er die Zahlen so interpretiert, dass sie in sein Bild passen. Schaut man etwa nur zurück auf die vergangenen zehn Jahre, ist die Schere beim Einkommen in Deutschland nicht weiter auseinandergegangen. Das liegt allerdings auch an gestiegenen staatlichen Transfers, wie Hartz IV, Kindergeld oder Wohngeld, aber auch am Mindestlohn.
Solche Maßnahmen verkleinern die Lücke zwischen Arm und Reich, aber sie ändern nichts am Ursprungsproblem: an der Chancen-Ungleichheit in Deutschland. Einige haben den Glauben an sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg schon verloren. Und das ist - da muss man Fratzscher Recht geben - gefährlich für eine Gesellschaft und für eine Demokratie.
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