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Neue Brutalität unter neuer Führung?

Bildrechte: AP

Nach militärischen baut Moskau die militärische Führungsriege für den Krieg um. Die neuen Kräfte könnten in der Ukraine noch grausamer vorgehen - und Putins Macht ins Wanken bringen.

229 Tage dauert die Invasion in die Ukraine inzwischen an - längst haben auch staatlich kontrollierte russische Medien eingestanden, dass sie sich in den meisten Punkten nicht nach Plan entwickelt hat. Trotz enormer Personal- und Materialverluste und zuletzt ausbleibender Eroberungserfolge setzte der Kreml lange darauf, lediglich endlos seine Ziele zu beteuern. Doch nun, da auch die Teilmobilmachung lediglich eine Massenflucht Wehrpflichtiger aus Russland ausgelöst hat, sollen radikalere Kräfte das Steuer übernehmen und die geforderten Erfolge bringen.

So deuten Experten die Beförderung von Tschetschenen-Anführer Ramsan Kadyrow, eine landesweite Rekrutierungskampagne in Gefängnissen durch Wagner-Milizenchef Jewgenij Prigoschin und die Ernennung von General Sergej Surowikin zum Oberkommandeur der sogenannten Spezialoperation. Sie könnten in der Ukraine ein neues Ausmaß von Brutalität an den Tag legen - ob Kremlchef Wladimir Putin sie im Zweifel überhaupt unter Kontrolle halten und gebebenenfalls maßregeln kann, ist unklar.


Surowikin: Rigoroser Karrierist


Sergej Surowikin leitete 2017 und 2019 bereits den Syrien-Einsatz der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte und hat maßgeblichen Anteil daran, dass das Assad-Regime sich dort an der Macht halten konnte. In der Ukraine hatte er zunächst das Kommando über den Truppenteil "Süd", nun soll er die Gesamtheit der russischen Streitkräfte dort befehligen.

Der US-Thinktank "Jamestown Foundation" schreibt ihm einen kometenhaften Aufstieg im russischen Militär zu, der "Rigorosität" erfordert habe und auf seine Bereitschaft zurückgehe, jeglichen Befehl auszuführen. Zu Episoden in seiner Vergangenheit, die Fragen aufwerfen - etwa zur Tötung dreier Zivilisten während des Augustputschs 1991 in Moskau bei einem Einsatz unter seinem Kommando oder zu Gewaltvorwürfen bei Streitigkeiten mit anderen Militärs - hat er sich nie öffentlich erklärt.


Prigoschins Verbrecherrekruten


Vielsagend ist indes, wer seine Beförderung begrüßt: Er kenne Surowikin, dieser sei "der kompetenteste Kommandant der russischen Armee", lobte ihn Jewgenij Prigoschin, dessen "Wagner"-Truppe mit Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht wird. Surowikin sei beim Augustputsch 1991 "ohne zu zögern in einen Panzer gestiegen und zur Rettung seines Landes geeilt". Er selbst, erklärte Prigoschin, sei damals auf der falschen Seite der liberalen Demonstranten gewesen - ein "Fehler", für den Russland bis heute bezahle.

Nun will Prigoschin es offenbar richten: Im September verbreitete sich ein Video, das ihn vor Gefängnisinsassen bei einer Rekrutierungsansprache für die Front zeigt - nach Recherchen des "Guardian" hat er diese inzwischen in Gefängnissen etlicher russischer Landesteile wiederholt und den Inhaftierten für sechs Monate Einsatz die Freiheit und einen stattlichen monatlichen Sold von 100.000 Rubel (umgerechnet 1655 Euro) versprochen.

Insassen, die sich auf das Angebot eingelassen haben, erwartet in der Ukraine demnach der eigene Tod oder unbegrenzte kriminelle Möglichkeiten: "Die Gefangenen werden wissen, dass sie dort mit völliger Straffreiheit handeln können", zitiert der Guardian einen Augenzeugen namens "Wladimir", der inzwischen frei ist. "Das Gefängnis macht dich zum Tier und in dir wächst viel Hass heran. Dort werden ihnen jegliche Fesseln gelöst."


Kadyrow: Werden Surowikin helfen


Über Surowikins Ernennung erfreut zeigte sich auch Ramsan Kadyrow, Präsident der Teilrepublik Tschetschenien, der im In- und Ausland sonst für an seine Gegner gerichtete Pöbeleien und Gewaltandrohungen bekannt ist. "Ich kann auf jeden Fall sagen, dass er ein wahrer General und Krieger ist, ein erfahrener, willensstarker und weitsichtiger Kommandeur, für den Begriffe wie Patriotismus, Ehre und Würde immer über allem stehen", lobte Kadyrow. Der Ukraine-Einsatz sei nun in guten Händen und werde sich unter Surowikins Führung zum Besseren wenden - "Und wir werden ihm natürlich bei der Lösung der ihm gestellten Aufgaben helfen", schrieb er auf Telegram.

Der russische Staatssender RT hatte schon in den ersten Tagen der Invasion ein Video einer Menschenmenge aus Grosny mit der Angabe veröffentlicht, es zeige die Entsendung von 12.000 tschetschenischen Kämpfern in die Ukraine. Im Juni kündigte Kadyrow die Entsendung von vier weiteren Bataillonen "beeindruckender Stärke" an, im September die Entsendung von zwei weiteren. Von ukrainischer Seite werden die "Kadyrowzi" mit einem vereitelten Mordanschlag auf Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem Massaker in Butscha in Verbindung gebracht, auch wenn ukrainische wie russische Quellen ihre tatsächliche Zahlenstärke und militärische Schlagkraft geringer einschätzen als ihre Fähigkeit, sich zu präsentieren.


Kadyrow erklärte später, bislang 20.000 Mann hätten an Kampfhandlungen teilgenommen und Tschetschenien sein Soll schon vor der Teilmobilisierung übererfüllt - außerdem habe er die männlichen Angehörigen von 40 Frauen in den Krieg geschickt, die in Grosny gegen die Mobilisierung demonstrieren wollten. Russen, die vor ihrer Einberufung ins Ausland flohen, beschimpfte er als "Schmarotzer" und "Faulpelze" und kündigte an, seine drei Söhne im Teenageralter in die Ukraine zu schicken.

Nachdem Kadyrow die russische Führung wegen ausbleibender Erfolge noch vor einigen Wochen öffentlich heftig kritisiert hatte, war er vergangenen Donnerstag zum Generaloberst ernannt worden - dem dritthöchsten Rang der russischen Streitkräfte. Nach den heftigen Raketeneinschlägen in der gesamten Ukraine ließ Kadyrow heute auf Telegram wissen: "So, jetzt bin ich zu 100 Prozent zufrieden mit der Durchführung der militärischen Spezialoperation."


Schoigu in Ungnade bei Putin?

Mit Surowikin, Prigoschin und Kadyrow stehen nun drei Ultraradikale an exponierter Stelle, um den Kriegeinsatz in der Ukraine nach ihren Vorstellungen zu lenken. Ihnen allen wird ein schwieriges Verhältnis zum russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu nachgesagt, der wie sie als bedingungsloser Loyalist hoch in Putins Gunst steht, seine Fehden aber nicht öffentlich austrägt.

Seit März wird Schoigu nicht mehr häufig in der Öffentlichkeit gesehen, was Beobachter anfangs zu Spekulationen über seinen Verbleib verleitete. Zuletzt berichteten der ukrainische Militärgeheimdienst und der Prigoschin-nahe Telegramkanal "Grey Zone" übereinstimmend, Schoigu und Generalstabschef Valerij Gerassimow seien mittlerweile entlassen worden - ihre Posten hätten der Gouverneur von Tula, Alexej Djumin, beziehungsweise Generalleutnant Alexander Matownikow übernommen. Bestätigt wurden die Angaben bislang nicht.


Wie der "Guardian" berichtet, sind aber längst nicht mehr nur russische Militärblogger mit den ausbleibenden Kriegserfolgen unzufrieden und machen altgediente Putin-Vertraute wie Schoigu dafür verantwortlich: Vielmehr habe in der gesamten russischen Machtelite ein verzweifeltes Lavieren zwischen eigener Zurückhaltung und Anpassung an die momentan Begünstigten angesetzt. "In Zeiten der Irren muss man sich auch als einer von ihnen ausgeben", wird eine Quelle aus Regierungskreisen zitiert. Andere berichten dem "Guardian" gegenüber, dass Schoigu seine möglicherweise bevorstehende Entlassung sogar recht sei, da er "einen Ausweg aus dieser Misere" suche.


Berichte über "Vorfälle" an der Front

Ob die neuen Köpfe an der Spitze die Wendung im Kriegsgeschehen bringen, ist ungewiss. Das "Institute for the Study of War" urteilt in seinem täglichen Bericht vom 9. Oktober bereits: "Putin schafft das eine nicht, was seine Hardliner-Wählerschaft von ihm fordert - den Krieg zu gewinnen. Eine Umschichtung hochrangiger Kommandeure wird die systemischen Probleme nicht lösen, die die russischen Operationen, die Logistik, die Verteidigungsindustrie und die Mobilisierung seit Beginn der Invasion gelähmt haben." Sündenböcke könnten nur für eine gewisse Zeit Kritik von seiner Person ablenken - und dass diese auch innerhalb seiner Anhängerschaft zunehme, sei "wahrscheinlich ein Vorbote" auf zukünftige Unzufriedenheit in diesem Lager.


Nicht zuletzt könnten die Geister, die Putin rief, ihm ganz neue Probleme bereiten: Der Telegramkanal der Organisation "Gulagu.net", die sich unter anderem gegen Folter und menschenunwürdige Bedingungen in russischen Haftanstalten einsetzt, berichtete jüngst, an der Front werde "eine Reihe von Zwischenfällen" vertuscht: Etwa habe in der Region Donezk ein "Wagner"-Kämpfer einen Oberstleutnant der russischen Armee erschossen - es sei nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen.

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