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Wie weit ist die Gegenoffensive in Cherson?

Bildrechte: picture alliance / zumapress

Die Ukraine meldet Erfolge bei der Rückeroberung Chersons, Russland wirkt nervös. Wie ist der Stand?

Die Region Cherson sei bereit für das geplante "Referendum zum Beitritt in die Russische Föderation" - aber "aufgrund der Sicherheitslage" habe man eine "Pause" eingelegt. So lapidar meldete es die russische staatliche Agentur Tass - unter Berufung auf Kirill Stremoussow, der dort als Vizechef der von den russischen Besatzern im Frühjahr installierten "militärisch-zivilen Verwaltung" auftritt. "'Sicherheitsgründe' heißt, dass anscheinend die ukrainische Offensive Russland wirklich zu schaffen macht", schließt Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF aus den Angaben.

Auch wenn offen bleibt, für wie lange das seit Monaten beschworene Referendum ausgesetzt wurde, ist klar: Sechs Monate nach Beginn der Invasion, bei der Cherson eine der ersten besetzten Städte war, scheint es dort für Moskau nicht nach Plan zu laufen.

Vergangene Woche hatte die ukrainische Regierung von schweren Kämpfen in der Region gesprochen: Die Rede war von einer Rückeroberung kleinerer Ortschaften und der Zerstörung mehrerer russischer Stützpunkte. Das US-Institute for the Study of War schrieb der Offensive zuletzt "nachweisbare Fortschritte" zu, ergänzte aber, deren Tempo werde von Tag zu Tag "dramatisch" variieren.


"Zurzeit scheint wieder etwas Momentum im ukrainischen Vorstoß zu sein", sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council On Foreign Affairs in Berlin gegenüber tagesschau.de. Die ukrainischen Streitkräfte versuchten Russlands Truppen am Fluss Dnipro "auszudünnen" und zum Handeln zu zwingen, um deren Munitions- und Treibstoffvorräte zur Neige zu bringen.

Denn inzwischen sei es für Russland schwierig geworden, noch Nachschub in die Südukraine zu liefern - die bisher genutzten Brücken über den Dnipro seien nicht mehr befahrbar, die Kapazitäten zur Versorgung via Hubschrauber und Behelfsbootflotte gering. "Damit stehen den Ukrainern immer mehr Handlungsmöglichkeiten offen", analysiert Gressel - auch wenn sich das in der Fläche noch nicht in Geländegewinnen ausdrücke. Für einen Gegenangriff auf breiter Front hätte die Ukraine ohnehin nicht die nötige Überlegenheit an Streitkräften und Munition.


Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte die lange angekündigte ukrainische Gegenoffensive um Cherson zunächst als erfolglos bezeichnet. Doch viele einzelne Signale aus Russland zeichnen ein nervöses Bild: Zwar beteuert Stremoussow in Videoschalten für das russische Fernsehen stets, Cherson gehöre nun unverbrüchlich und für immer zu Russland - jüngst sprach er in einem solchen Beitrag aber erkennbar vom Marriott-Hotel im Hunderte Kilometer entfernten Woronesch aus.

Auch russische Militär-Blogger räumten zuletzt ein für Russland ungünstiges Frontgeschehen ein - und Berichten zufolge ist die Moral der Truppen zunehmend niedrig, während die Gewinnung weiterer Einsatzkräfte mühsam bleibt: In sozialen Netzwerken machte am Montag auf russischsprachigen Accounts mit bitterer Häme die Runde, dass das Kreiswehramt Sankt Petersburgs inzwischen mit einer Anzeige auf der Webseite einer staatlichen psychoneurologischen Behandlungsanstalt um Rekruten wirbt.


Den Eindruck einer gewissen Nervosität auf russischer Seite teilt auch Gustav Gressel. In Cherson sei es in mehreren Hinsichten für den Kreml nicht nach Plan gelaufen: "Eine davon ist natürlich die Unterstützung in den besetzten Gebieten, die mehr oder weniger ausbleibt." Nach der raschen Eroberung Chersons hatten nur vergleichbar wenige Menschen von dort fliehen können - doch sie erzählen übereinstimmend, dass sich an der anfänglich noch in Straßenprotesten gezeigten Ablehnung der Bevölkerung nichts geändert habe: russische Läden und Dienstleistungen würden möglichst gemieden, die Russifizierung von Firmen, Ausweispapieren und Geldgeschäften nur notgedrungen umgesetzt.

"Es gibt auch erhebliche Probleme, was die Rekrutierung von Verwaltungsbeamten angeht", sagt Experte Gressel. "Das muss im Grunde Russland alles selbst besorgen und eigene Leute schicken - auch aus der Nationalgarde und dem Geheimdienst FSB, um die innere Sicherheit zu erhalten. Und all das kostet natürlich Ressourcen."

Immer wieder gibt es zudem Berichte von Partisanen-Aktivitäten, die im besetzten Gebiet Sabotageakte begehen oder russische Stellungen an die ukrainischen Streitkräfte melden. Auch hier, betont Gressel, brauchten die ukrainischen Kräfte Zeit, um ihren Gegner auszukundschaften und dann Schwachstellen auszunutzen.


Noch rücken der Kreml und das von dort gesteuerte Besatzungsregime nicht von ihrem erklärten Kriegsziel ab, die Region Cherson und die gesamte Ukraine Russland einzuverleiben - bislang um jeden Preis. "Das Referendum wurde nicht abgesagt, es ist erstmal nur verschoben. Russland hält an der Idee immer noch fest, diese Gebiete zu annektieren und in russisches Territorium zu verwandeln. Und hinzu kommt: Russland kann auch ohne ein Referendum die sogenannte Entukrainisierungspolitik fortsetzen - auch ohne Referendum kann die Bevölkerung dort unterdrückt werden", warnt Claudia Major im Morgenmagazin.

Dass Russland sich dabei auch ruinöse Schlachten und auf regelrechte Himmelfahrtskommandos einlassen würde, sieht Gressel derzeit nicht, betont aber: "Dieses Katz-und-Maus-Spiel wird noch lange andauern." Zwar sei an einigen Stellen nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte die erste Verteidigungslinie der russischen Kräfte durchbrochen - doch dahinter liegen weitere, in die sich die Truppen nach sechs Monaten Besatzungszeit tief eingraben konnten.


Selbst bei größeren Geländegewinnen ist ein Erfolg der Ukraine noch kein Automatismus, erklärt der Experte: "Je tiefer sie stoßen, desto stärker müssen sie etwa ihre eigene Flugabwehr nachziehen, um sich der russischen Luftwaffe zu entledigen. Da kann es viele Koordinationsprobleme geben, die auf die Ukrainer warten - und je nachdem, welche Seite dann besser im Improvisieren ist, geht ein Vorstoß langsamer oder schneller vor sich." Im bisherigen Kriegsverlauf hätten die ukrainischen Streitkräfte sich beim Handeln aus der Bewegung und beim schnellen Improvisieren als die stärkere Seite gezeigt.

Doch wenn es schließlich eines Tages an die Eroberung der Stadt Cherson selbst geht, sind die Gegebenheiten im Häuserkampf erneut andere als im Gelände - und Gressel deutet an, dass die Ukraine auch einen Erfolg mit einem hohen Preis bezahlen könnte: Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha und Irpin etwa fand die Weltöffentlichkeit dort massenhaft gefolterte und erschossene Zivilisten vor. Viele von ihnen waren offenbar erst kurz vor dem Abzug getötet worden.

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