tagesschau.de: Deutschland hat sich nun bereiterklärt, selbst schwere Waffen in die Ukraine zu liefern - vorausgegangen war wochenlanger Druck seitens der ukrainischen Regierung, aber auch unter anderem von Stimmen aus der Bundespolitik. Woher kommt nun die Kehrtwende?
Wolfgang Richter: Ich sehe keine Kehrtwende bei der deutschen Politik, sondern eher ein graduelles Aufstocken dessen, was wir schon geliefert haben. Erkennbar ist, dass bei der Lieferung schwerer Waffen bislang auch Alliierte zögerlich waren - das ist auch in puncto Kampfpanzer noch immer der Fall. Die USA waren dann die ersten, die Haubitzen in die Ukraine liefern. Die Niederlande haben das System der "Panzerhaubitze 2000" angeboten, das deutscher Genehmigung bedarf - und Deutschland wird die Ausbildungshilfe dafür leisten.
Davor gab es zunächst den Ringtausch mit Slowenien. Aber dafür gab es auch gute Gründe: Für die Ukrainer hat es mehr Sinn, Waffensysteme zu bekommen, die sie sehr schnell einsetzen können, bei denen die Logistikkette bereits steht und an denen sie nicht erst ausgebildet werden müssen - und für die auch entsprechende Munition und Ersatzteile vorhanden sind. Was heute neu hinzugekommen ist, ist nur, dass der Flugabwehrpanzer "Gepard" aus deutschem Bestand an die Ukraine geliefert werden soll.
tagesschau.de: Was kann die Ukraine mit den Haubitzen und Kampfpanzern, die sie jetzt bekommen soll, anfangen?
Richter: Da müssen wir erst einmal abwarten, in welchem Zustand die Panzer sind. Denn der "Gepard" ist aus der Bundeswehr seit langem ausgemustert worden und wird jetzt nicht in einem Zustand der sofortigen Einsatzbereitschaft sein. Es muss erst festgestellt werden: In welchem Zustand sind die Panzer? Wie viele Ersatzteile hat man noch? Kann man sie in kurzer Zeit reparieren? Steht die Logistikkette noch? Muss man neu produzieren? Gibt es noch Munition dafür? Und wie sehen die Feuerleit- und Radargeräte aus? Erst dann kann die Ausbildung erfolgen - und dann eine Lieferung. Das wird nicht in wenigen Tagen gehen, sondern voraussichtlich Wochen dauern.
tagesschau.de: Welchen militärischen Vorteil kann die Ukraine durch die nun zugesagten schweren Waffen erlangen?
Richter: Die "Gepard"-Panzer sind Flugabwehrpanzer. Sie zu haben ist günstig, wenn man versucht, die Luftüberlegenheit des Gegners zu bekämpfen und sicherzustellen, dass die eigenen Bodentruppen sich am Boden bewegen können, ohne von Luftfahrzeugen sofort unmittelbar angegriffen zu werden. Das ist sicherlich ein großer Vorteil.
Die Haubitzen, also die Artillerie, sind nötig, um den sehr panzer- und artilleriestarken Angriff der russischen Truppen aufzuhalten und Gegenfeuer zu leisten; um die russischen Panzerkolonnen also zu dezimieren, aufzuhalten - oder zumindest so vorübergehend zu stoppen, dass dann die entsprechenden Panzerabwehrwaffen, die unter anderem Deutschland auch schon geliefert hat, wirken können.
Im Verbund können alle genannten Waffen wirken - denn es gibt ja kein Duell auf dem Gefechtsfeld, sondern ein Gefecht verbundener Waffen. Das heißt, man muss die Waffen gut aufeinander abstimmen, damit sie ihren Effekt erzielen. Und darin sind die Ukrainer besser als die Russen.
tagesschau.de: Bei der Pressekonferenz in Ramstein sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zu, aus dem einmaligen Treffen solle eine monatliche Kontaktgruppe von Verbündeten werden, die immer wieder die Bedarfe der Ukraine abfragt. Wird das von der russischen Führung nicht als eine Provokation seitens der NATO aufgefasst?
Richter: Derjenige, der hier provoziert, ist Russland. Russland hat einen völkerrechtswidrigen Angriff angefangen, verletzt die Integrität und die Souveränität der Ukraine. Die Ukraine hat alles Recht nach der Charta der Vereinten Nationen, sich zu wehren - und zwar sowohl individuell als auch kollektiv. Dem Recht nach hätten sogar andere Staaten die Möglichkeit, in die Kämpfe einzugreifen und Truppen zu schicken. Aber genau das tut die NATO nicht: Sie will keine eigenen militärischen Operationen in der Ukraine durchführen, aber sie geht so weit, wie man gehen kann, ohne selbst Kriegspartei zu werden - nämlich, indem sie Waffen liefert. Und dass man das kontinuierlich tut, geschieht natürlich in der Hoffnung, dass die russische Seite sich nicht durchsetzen kann und dass die Ukraine befähigt wird, sich weiterhin zu verteidigen - sodass die territoriale Integrität nicht weiter beeinträchtigt wird oder, wenn man auf einen glücklichen Ausgang hofft, sogar Teile der Integrität wiederhergestellt werden können.
tagesschau.de: Der russische Außenminister Sergej Lawrow deutete jüngst an, die Gefahr eines Atomkriegs "dürfe nicht unterschätzt werden" - Russlands guter Wille habe seine Grenzen. Darauf angesprochen antwortete US-Verteidigungsminister Austin in Ramstein, er wolle sich auf so eine Diskussion gar nicht einlassen. Wie ist das Risiko zu bewerten?
Richter: Das Risiko besteht aus zwei Elementen: das eine ist die Auswirkung eines atomaren Angriffs, das andere ist dessen Wahrscheinlichkeit. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist, wären die Auswirkungen sehr groß - und insofern muss man die Risiken höher ansetzen als Null. Dagegen steht, dass Russland weiß, wenn es zu diesem Mittel greift: Wann immer die Nato angegriffen wird, erfolgt ein entsprechender Gegenschlag. Aber wenn es die Regel gibt "Wer als erstes schießt, ist als zweites tot", dann ist es aus russischer Sicht sinnlos, einen solchen Schritt zu wagen. Im Moment halte ich das noch für eine abschreckende Rhetorik.
Man kann natürlich spekulieren über Atomwaffen-Einsätze über der Ukraine - wenn Russland nicht nur bei einer abschreckenden Rhetorik bleibt, sondern der Tabubruch des ersten Nuklearwaffeneinsatzes seit Hiroshima und Nagasaki eintritt, wäre das das Ende des Nichtverbreitungsregimes. Dann wäre Russland weltweit isoliert. Es gäbe niemanden - auch nicht China oder Indien -, der sich dann zurückhielte oder die russische Seite wählen würde. Und es gäbe sicherlich dann auch militärische Folgen. Aber es hat keinen Zweck, solche Szenarien jetzt weiterzutreiben. Das wäre ein Fall, den man natürlich verhindern muss - aber im Moment halte ich das für Rhetorik, die den Westen abschrecken soll, weitere Waffen zu liefern.
tagesschau.de: Welche Rolle wird Deutschland nun bei der Unterstützung der Ukraine - auch mit schweren Waffen - in den kommenden Wochen spielen?
Richter: Deutschland wird die Politik weiter verfolgen, die es bisher verfolgt hat: Nämlich Waffen zu liefern - in enger Abstimmung mit Bündnispartnern. Und da Deutschland ja ein wirtschaftlich potenter Staat ist, wird es nach den USA auch relativ viel liefern. Das haben wir in der Vergangenheit gesehen. Das sollte man also nicht als einen Sonderweg bezeichnen, sondern Deutschland hat das getan, was viele Bündnispartner auch getan haben.
Finanziell ist Deutschland bei der Unterstützung schon sehr weit vorne und wird jetzt auch schwere Waffen liefern. Aber bisher gibt es nach wie vor, auch bei den Amerikanern, eine Schranke, sehr modernes Gerät westlicher Bauart zu liefern - zum Beispiel Kampfpanzer. Das sehen wir bei keinem Alliierten und das werden wir auch so schnell von Deutschland, glaube ich, nicht erleben. Zumal die Bundeswehr selbst ihre Verteidigungsfähigkeit natürlich erhöhen muss, denn sie ist ja nicht voll ausgestattet. Das muss jetzt geschehen, damit man einsatzbereite Verbände hat, die in kurzer Zeit auch durchhaltefähig in einen solchen Einsatz gehen können.
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