Anmelden
Passwort vergessen?

Neu bei torial?

Neu registrieren
Kleingedrucktes
Impressum Hilfe AGB Datenschutz
Kontakt
Newsletter

DE
Deutsch Englisch Französisch
  • Über torial
  • Blog
  • Portfolio
  • Recherche
  • {{{$value}}}

torial

Jasper Steinlein

journalist

Kontakt
Abonnieren
Feed Empfehlen
  • Portfolio
  • Profil
Keine Abos und 11 Abonnenten
Interview

"Viel hängt vom Begriff 'Neutralität' ab"

Bildrechte: AP

Was hinter Präsident Selenskyjs Überlegungen zu einer Neutralität der Ukraine steckt - und ob Zugeständnisse an Russland akzeptabel wären.

Gwendolyn Sasse ist die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOIS) in Potsdam. Die Politikwissenschaftlerin und Slawistin ist außerdem Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Oxford sowie externes Ratsmitglied bei der Denkfabrik Carnegie Europe.

tagesschau.de: Eine ukrainische und eine russische Delegation wollen sich in Istanbul zu Verhandlungen treffen - im Vorfeld machte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Äußerungen, die man als mögliche Zugeständnisse auffassen kann. Wie müsste ein Frieden aussehen, der für Selenskyj annehmbar wäre?


Gwendolyn Sasse: Ich glaube, dass wir noch weit weg sind von einer konkreten Vorstellung, worauf sich beide Seiten da wirklich verständigen können. Es hängt viel von diesem Begriff der Neutralität ab, den meines Erachtens die ukrainische und russische Seite sehr unterschiedlich auslegen. Selenskyj hat ja schon mehrmals ins Spiel gebracht, dass man über Neutralität verhandeln könne - im Gegenzug soll es dann Sicherheitsgarantien mit verschiedenen Garantiemächten geben für diese Neutralität, die verstanden wird als eine Bündnisfreiheit, also ein Nicht-Beitritt zur NATO. In anderen Bereichen der Politik kann man sich eine Neutralität in der Ukraine nur schwer vorstellen - und die Ukraine hat mit dem Budapester Memorandum schon die Erfahrung gemacht, dass genau dieses Neutralitätsmodell nicht funktioniert hat.


tagesschau.de: Was stellt sich denn Russland unter dem Begriff Neutralität vor?


Sasse: Russland stellt sich vor, dass die Ukraine zusagt, der NATO nicht - vermutlich nie - beizutreten und auch keine Nuklearwaffen auf ihrem Territorium zu haben. Das ist ja momentan auch nicht der Fall, aber es wäre zusätzlich noch einmal in einem Abkommen so formuliert.

In Russland ist von Neutralität fast immer im Zusammenhang mit Entmilitarisierung gesprochen worden, und es ist unklar, was das genau heißen soll - ob damit gemeint ist, dass die Ukraine keine eigene Armee zur Landesverteidigung haben dürfte. Darauf würde sich die Ukraine natürlich nicht einlassen.


tagesschau.de: Neutralität und Verzicht auf nukleare Teilhabe sind im Grundsatz Punkte, die Russland schon vor seinem Überfall auf die Ukraine als "Sicherheitsgarantien" von ihr verlangt hatte - wenngleich natürlich die Forderung nach einer Demilitarisierung noch weit darüber hinausreicht. Kommt der Kreml mit seinen harten Forderungen nun also durch, hat er sie militärisch erzwungen?


Sasse: Dazwischen ist natürlich viel passiert, und zu einem hohen Preis ist nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland nun die Bereitschaft da, über die Idee eines Nichtbeitritts zur NATO zu diskutieren, über die "Neutralität".

Bei anderen Forderungen, die ja auch im Vordergrund standen, um den Krieg zu rechtfertigen, liegt man inzwischen noch weiter auseinander - und ich kann mir momentan nicht vorstellen, dass der ukrainische Präsident sich dem annähern wird: nämlich die Forderung, die Krim-Annexion zu akzeptieren, anzuerkennen, dass die Krim zu Russland gehöre und auch die Gebiete im ostukrainischen Donbass als unabhängig anzuerkennen und - wer weiß, vielleicht eines Tages auch als Teil von Russland... Das sind die wichtigsten Forderungen Wladimir Putins. Und auf die will sich Selenskyj momentan nicht einlassen.

Er hat interessanterweise jetzt einmal gesagt, dass man bei einem Rückzug russischer Truppen in die Separatistengebiete in der Ostukraine neu verhandeln könnte über den Status; damit hätte er eigentlich signalisiert, man solle in den Zustand vor den Krieg zurückkehren und dort wieder anknüpfen mit Verhandlungen, wenn Russland seine Truppen auf dieses Gebiet zurückzieht. Aber es erscheint in der jetzigen Situation sehr unwahrscheinlich, dass das passieren könnte.


tagesschau.de: Selenskyj sprach auch vom "Versuch, die Donbass-Frage zu lösen" und gestand ein, dass eine militärische Rückeroberung nicht realistisch wäre. Hat er damit die besetzten Gebiete - und wohl auch die Krim - de facto aufgegeben?


Sasse: Das ist schwer zu sagen. Es klingt in seiner Rhetorik eigentlich nicht so. Auf die Krim bezogen habe ich ihn bisher noch nicht ein einziges Mal ein Zugeständnis formulieren hören, und auf die Teile des Donbass bezogen gab es bisher meiner Ansicht nach nur diese eine Aussage, dass man bei einem Rückzug der Truppen über den Status dieser Gebiete neu verhandeln könne.

Man kann es wie ein Zugeständnis ansehen, dass Selenskyj offenbar nicht denkt, man könnte diese Teile wieder voll in die Ukraine integrieren. Er hat jetzt schon häufig betont, dass es um die territoriale Integrität des ukrainischen Staates gehe und dazu auch die Krim und der Donbass gehören. Das war bisher die Hauptaussage - und nun gibt es eine kleine Öffnung über Statusverhandlungen in der Ostukraine, die man aber noch nicht interpretieren kann.

Auf jeden Fall spielen solche Signale auch als Schachzüge vor Verhandlungen eine Rolle, ohne klare Zusagen zu machen oder gar auf alle drei Maximalforderungen Putins einzugehen. Allerdings steht auch dahinter die Frage, dass Selenskyj ein Friedensabkommen mit dem Vorhaben verbunden hat, es per Referendum in der Ukraine legitimieren zu lassen. Auch vor diesem Hintergrund erscheint mir sehr unwahrscheinlich, dass ein territorialer Verlust Teil eines solchen Abkommens sein kann, wenn es durch ein Referendum legitimiert werden muss.


tagesschau.de: Würde die ukrainische Bevölkerung solche Bedingungen denn als "Frieden" akzeptieren?


Sasse: Das ist momentan die große Frage. Wir sehen auch in momentan unter sehr schwierigen Bedingungen durchführten Umfragen, dass der Zuspruch zur NATO in der Ukraine noch gestiegen ist - und er war ja schon vor dem Krieg groß. Ich kann mir momentan unmöglich vorstellen, dass ein Neutralitätsstatus, eine Bündnisfreiheit der Ukraine, zu der dann noch territoriale Verluste hinzukämen, von der Bevölkerung in einem Referendum angenommen wird.

Selenskyj hat bereits gesagt, dass zwischen einer Friedenseinigung und einem Referendum Monate vergehen können - und vieles wird von der weiteren Kriegsdynamik abhängen. Aber momentan erscheint mir die Zustimmung der Bevölkerung zu allem, was über Neutralität nach ukrainischer Diktion hinausgeht, eher unwahrscheinlich.


tagesschau.de: Selbst dann wäre nicht alles geklärt: Das Ziel, der NATO beizutreten, hat in der Ukraine Verfassungsrang - die Ukraine müsste also erneut ihre Verfassung ändern. Unter den momentanen Umständen erscheint es schon fraglich, wie denn überhaupt ein Referendum abgehalten werden kann, wie das Parlament zusammentreten soll...


Sasse: Das ukrainische Parlament tritt zwar noch zusammen und betont, dass es weiterarbeitet - aber natürlich ist das keine parlamentarische Arbeit im Normalbetrieb. Doch selbst wenn man es sich auf Arbeitsebene noch vorstellen könnte, kann ich mir momentan keine Verfassungsmehrheit für so einen Vorschlag vorstellen. Und die Bevölkerung der Ukraine sieht durch den Krieg schon sehr anders aus als zuvor; ein Referendum müsste nicht zuletzt auch den Millionen Ukrainern eine Stimme geben, die geflohen sind... Das ist erst nach einem Waffenstillstand als nachträgliche Legitimierung vorstellbar.


tagesschau.de: Auch wenn eine Friedensvereinbarung zwischen der Ukraine und Russland zustande käme: Wieso sollte die Ukraine oder der Westen annehmen, dass Russland sich daran hält und diesmal nicht wort- und vertragsbrüchig wird?


Sasse: Ehrlich gesagt kann ich mir das momentan auch nicht vorstellen. Ich weiß nicht, wie man davon ausgehen kann, dass, dass Russland sich an einen Vertrag halten wird - und umgekehrt kann ich mir auch nicht vorstellen, welche Garantien man dort hineinschreiben kann, die der Ukraine genügen könnten - und wie sie so gefasst werden können, dass sich die Ukraine darauf verlassen kann.


tagesschau.de: ... zumal Russland bei jeglichen Verhandlungen nie als Partei auftritt, die zu irgendeiner Form von Zugeständnissen bereit ist.


Sasse: Es müsste, damit ich mir das überhaupt vorstellen kann, einen anderen Anreiz für die Ukraine geben, damit sie eventuell bereit wäre, dieses Risiko auf sich zu nehmen - vieles hängt auch vom Kriegsgeschehen in den nächsten Wochen und vielleicht auch Monaten ab. Der Kreml hat unter anderem auf Österreich und Schweden als Modell verwiesen - und das ist schon ein interessanter Verweis, denn zwar sind diese Länder militärisch neutral und nicht Teil der NATO, aber sie sind der EU beigetreten und kooperieren inzwischen sehr eng mit der NATO. Das wirft die Frage auf, ob es möglich ist, die EU stärker als eine Art politischer Sicherheitsgarantie ins Spiel zu bringen - obwohl es natürlich auch in der EU überhaupt keinen internen Konsens über einen möglichen Beitritt der Ukraine gibt.


tagesschau.de: Nach vier Wochen ändert sich in der ukrainischen Gesellschaft merklich die Stimmung - aus vielen Stimmen sind momentan Enttäuschung und trotzige Gekränktheit zu vernehmen, dass NATO, EU und andere sich in der ukrainischen Wahrnehmung so weiträumig aus dem Krieg heraushalten: "Warum kann der Westen nicht eingestehen, dass die Ukraine die Oberhand hat?" heißt es in Stellungnahmen, viele scheinen selbst an einen militärischen Sieg des Landes zu glauben. Was bedeutet das für das künftige Verhältnis der Ukraine zu NATO, EU und anderen westlichen Institutionen?


Sasse: Ich glaube, zunächst stellt es die eindeutige Westorientierung der Ukraine nicht infrage, dass im Moment ein Vertrauensverlust da ist, was einzelne Mitgliedsstaaten, aber auch die EU oder die NATO als Ganzes angeht. Dass sich momentan Enttäuschung Bahn bricht, mag in einer Nachkriegsphase wieder anders aussehen - denn wohin soll sich die Ukraine orientieren, auch wirtschaftlich, wenn nicht weiterhin nach Westen?

Aber was dadurch momentan auf jeden Fall erst einmal erschwert wird, ist die Akzeptanz eines Kompromisses dieser Friedensverhandlungen, die jetzt nur zögerlich beginnen. In der Tat ist dadurch schwerer vorstellbar, dass ein Kompromiss durch die Bevölkerung akzeptiert würde.


tagesschau.de: Welche Konsequenzen kann eine Einigung denn für den Westen haben? Stark verkürzt: Fallen die Sanktionen, sobald ein Abkommen da ist und die Kämpfe enden?


Sasse: Nein, davon gehe ich überhaupt nicht aus. Diese weitreichende Sanktionen werden lange Zeit erhalten bleiben. Das Verhältnis zu Russland wird sich in den kommenden Jahren gar nicht normalisieren können - das kann ich mir nicht vorstellen. Die Logik von Sanktionen besteht darin, dass sie eines Tages aufgehoben werden können - aber in der jetzigen Situation und auch nach einem Kriegsende ist schwer vorstellbar, dass die Sanktionen zurückgenommen werden - sie sind ja auch nicht an ein bestimmtes Friedensabkommen gekoppelt.

Zum Original
Original anzeigen

Erstellt am 30.03.2022
Bearbeitet am 31.03.2022

Quelle
https://www.tagesschau.de/ausland/e...

Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Alle Rechte vorbehalten

Themen-Tags
friedensverhandlungen russland krieg ukraine
Dies ist ein öffentliches Journalisten Portfolio von torial.
Weitere Portfolios und Beiträge in den Themen.
torial