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Krieg gegen die Ukraine: Wie hoch sind Russlands Verluste?

Bildrechte: Ukrainische Streitkräfte/Reuters

Die ukrainische Regierung Russland im Krieg horrende Verluste zu. Was wissen wir über Todesopfer auf beiden Seiten?

Urteilt man allein den Angaben der ukrainischen Regierung nach, wird die russische Armee beim Einmarsch in die Ukraine regelrecht aufgerieben: Vom ersten bis zum 13. Tag des Krieges seien "mehr als 12.000" russische Soldaten gefallen, 317 Panzer sowie 1070 gepanzerte Fahrzeuge, 120 Artilleriesysteme sowie 56 Mehrfachraketenwerfer-Systeme (MLRS) zerstört worden, teilt das Verteidigungsministerium am Mittwochmorgen mit.


Unter den Getöteten sollen ukrainischen Angaben zufolge zunehmend hochrangige Militärs sein: Am 1. März berichteten ukrainische Medien über den Tod des russischen Generalmajors Andrej Suchowezkij durch einen Scharfschützen bei Mariupol tags zuvor. Suchowezkij soll unter anderem in Tschetschenien, Abchasien und in Syrien im Kampfeinsatz gewesen sein und insgesamt 14 Orden und militärische Auszeichnungen erhalten haben. Bei der Invasion in die Ukraine soll er den Angaben zufolge Vizekommandeur der 41. Armee gewesen sein und eine Luftlandetruppen-Spezialeinheit geführt haben.

Im russischen Netzwerk vk.com, das von staatlichen Behörden überwacht wird, schrieb dessen ehemaliger Kamerad Sergej Tschipilew in einem Post über Suchowezkijs Tod, löschte aber später seinen Account, als russische Medien die Information aufgriffen. Kremlchef Wladimir Putin soll den Todesfall später in einer Rede bestätigt haben.


Am 8. März berichteten ukrainische Medien, der russische Generalmajor Vitalij Gerasimow, Stabschef und Vizekommandeur der 41. Armee, sei tags zuvor beim Kampf um Charkiw getötet worden. Er soll im zweiten Tschetschenienkrieg und in Syrien gekämpft haben. Die russischen Behörden bestätigten seinen Tod zunächst nicht. Das Recherchekollektiv "Bellingcat" teilte mit Verweis auf eine russische Quelle mit, Gerasimows Tod sei bestätigt worden. "Bellingcat" zufolge funktioniere auch das russische System zur Verschlüsselung der Kommunikation nicht - so seien Einsatzkräfte des russischen Geheimdiensts FSB beim Gespräch über Gerasimows Tod abgehört worden.


Russland hält sich seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar bedeckt mit Angaben über seine Verluste. So räumte erst am vierten Kriegstag ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, überhaupt ein, es gebe "Tote und Verletzte", ohne jedoch Zahlen zu nennen. Am 2. März teilte Konaschenow mit, in der Ukraine seien zu diesem Zeitpunkt bislang 498 russische Soldaten getötet und 1597 russische Soldaten verwundet worden.

Als Verluste auf ukrainischer Seite gab Konaschenkow zu diesem Zeitpunkt unter anderem 58 zerstörte Flugzeuge, 472 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 62 Mehrfachraketenwerfer-Systeme und 206 Artilleriesysteme an. Seitdem gibt es von russischer Seite keine neuen Zahlenangaben.


Konfliktbeobachter und Journalisten gehen jedoch davon aus, dass die russischen Verluste deutlich höher liegen: US-Angaben zufolge sollen bislang etwa 4500 russische Soldaten in der Ukraine gefallen sein, unabhängige Nachrichtenmedien wie "Radio Swoboda" und "Washington Post" berichten unter Berufung auf Angehörige, dass Todesfälle unter russischen Soldaten von den Behörden teils vertuscht, teils verleugnet werden.

"Es ist für Dritte unmöglich, diese im Einzelnen zu überprüfen, aber vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Fest steht wohl, dass Russland bisher mehr Verluste hat hinnehmen müssen als erwartet", folgert Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg (IFSH), der zur russischen Außen- und Militärpolitik forscht.


Dass eigene Verluste nur zögerlich mitgeteilt und niedrig beziffert werden, während die des Gegners besonders betont und eher übertrieben werden, sei in Kriegen und Konflikten nicht ungewöhnlich, meint Graef: "Es geht sowohl darum, durch Angabe geringer Verluste die Moral der eigenen Truppen zu stärken, als auch in der Öffentlichkeit ein bestimmtes, möglichst positives Bild des Kriegsverlaufs für die eigene Seite zu zeichnen." In einigen Fällen sei dies angesichts der offensichtlichen Überlegenheit einer Seite leicht zu durchschauen. "Im Krieg in der Ukraine ist die Lage komplizierter, aber auch hier besteht die Gefahr, dass das öffentliche Bild auch bei uns nicht der Realität vor Ort entspricht und deshalb zu falschen Annahmen und Schlüssen verleitet."


Unter anderem sei es wichtig, genau zu unterscheiden, aus welchen Personengruppen die mitgeteilten Zahlen sich zusammensetzen: "Wir müssen sowohl zwischen Zivilisten und Kombattanten als auch zwischen Verletzten und Todesopfern unterscheiden." Auch sprachliche Unterschiede spielen hier eine Rolle: Im Englischen sind mit dem Begriff casualties (Opfer) sowohl Verletzte oder kampfunfähige Militärs als auch Tote gemeint. Der Begriff fatalities hingegen bezeichnet ausschließlich Todesopfer.


Da insbesondere während fortgesetzter Kämpfe die Überprüfung solcher Angaben schwierig ist, seien auch unabhängige Beobachter auf offizielle Stellen angewiesen, um sich ein Bild zu machen, sagt Graef. "Hier hilft nur, verschiedene Angaben miteinander zu vergleichen, auf Widersprüche zu achten und den Kriegsverlauf so gut es geht selbst zu verfolgen, um zu möglichst belastbaren Einschätzungen zu kommen. Es wird dennoch immer eine große Unsicherheit bleiben. Das sollte man offen zugeben."

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