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Der "Alte" ist weg, es wird brutaler

Bildrechte: dpa

Kasachstans Präsident hat mit Ex-Machthaber Nasarbajew gebrochen. Nun holt er ausländische Truppen ins Land, lässt auf Demonstranten schießen. Was treibt ihn zu seinem brutalen Vorgehen?

Nach heftigen Unruhen durch Protestierende in Kasachstan agiert Präsident Kassym-Jomart Tokajew zunehmend brutal: Zunächst bat er das Sicherheitsbündnis OVKS, dessen stärkste Kraft Russland ist, um einen Militäreinsatz gegen "Terroristen" in den Straßen, tags darauf gab er an Sicherheitsbehörden die Anweisung aus, auch ohne Vorwarnung auf Protestierende zu schießen. Fotos und Videos, die trotz immer wieder abgeschalteter Internetverbindungen aus dem Land herausdrangen, zeigten heftige Kampfszenen. Eine enorme Gewaltbereitschaft der Regierung, die aber nicht Tokajews Kontrolle über einen starken Sicherheitsapparat beweist, sondern eher eine Panikreaktion sein dürfte: "Auf mich wirkt es so, als ob Tokajew völlig überrumpelt von den Ereignissen ist und hilflos agiert", sagt Zentralasien-Analystin Beate Eschment vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin.


Schon auf die zornigen "Alter Mann, verzieh dich!"-Rufe der Demonstrierenden, die damit vor allem seinen Amtsvorgänger Nursultan Nasarbajew meinten, hatte Tokajew nur mit Minimal-Zugeständnissen reagiert, von denen früh klar war, dass sie der Bevölkerung nicht ausreichen dürften: einer Senkung der Ölpreise, einer Entlassung der Minister, Nasarbajews Rückzug aus allen ihm verbliebenen Ämtern.

Dieser hatte das Land seit der Unabhängigkeit 1990 fast drei Jahrzehnte lang geführt - und blieb auch nach seinem Rückzug als Präsident 2019 die zentrale Machtfigur als Vorsitzender der Regierungspartei und Chef des Sicherheitsrats.

Dann brachen Demonstrationen los, Protestteilnehmer rissen in Taldykorgan sein Standbild vom Sockel, in sozialen Netzwerken höhnten Nutzer, dass es innen hohl sei - ein Fanal für den vom "Führer der Nation" geschaffenen Machtapparat. Am Donnerstag meldeten russische Nachrichtenmedien, Nasarbajews Privatmaschine sei aus Nur-Sultan Richtung Dubai abgeflogen - sein Verbleib ist unklar, zu den Ereignissen in Kasachstan hat er sich bislang nicht geäußert.


Tokajew hingegen hatte seinen eigenen Rückzug von Anfang an ausgeschlossen, inzwischen hat er alle Ämter Nasarbajews eingenommen. Kam ihm der öffentliche Bruch womöglich aus eigenem Machtbestreben nicht ungelegen? Anzeichen, dass beide überkreuz lagen, wollen Beobachter schon vor kurzem ausgemacht haben: Zum Gipfel der GUS in Sankt Petersburg seien beide in getrennten Flugzeugen angereist - einen Monat nach Tokajews Übernahme des Regierungspartei-Vorsitzes.

ZOIS-Expertin Eschment sieht solche Spekulationen mit Skepsis: Sie weist darauf hin, dass Nasarbajew seinen Nachfolger Tokajew 2019 selbst ernannt hatte - dieser sei ein "völlig uncharismatischer Bürokrat", der in seinem Denken von sowjetischen Strukturen geprägt sei und bislang stramm seine Pflicht erfüllt habe. "Dass so jemand plötzlich geniale Ideen hat, wie er das Land reformieren will, ist unwahrscheinlich - da braucht es keinen Nasarbajew, der ihn bremst."

Zwar betrachte Kasachstans erster Präsident das Land in der heutigen Form als sein "Lebenswerk" - aber dass er sich mit 81 Jahren schlicht aus gesundheitlichen Gründen nicht auf einen Machtkampf eingelassen habe, sei ebenso plausibel.

"Ich denke sogar, dass Tokajew an dem von Nasarbajew geschaffenen System festhält und nur kosmetische Veränderungen vornimmt", sagt Assel Tutumlu, die an der Near East University im Norden Zyperns unter anderem zur Wirtschaftspolitik autoritär geführter Staaten in Zentralasien lehrt und forscht. Ungeachtet seiner öffentlichen Lossagung halte der Präsident eine schützende Hand über die wirtschaftlichen Ressourcen, die Familie und Vertraute Nasarbajews angehäuft hätten.


Gegen die Theorie der "Palastintrige" spricht auch Tokajews weiteres Vorgehen: Ginge es nur um persönliche Konflikte gegen den Übervater, hätte er sich nach dem Bruch mit dem "alten Mann" den Kasachen zuwenden und nach der vorgeblichen Erfüllung ihrer Forderungen wieder um Unterstützung werben können. Doch mit der Herbeirufung der OVKS-Soldaten und dem Schießbefehl auf Zivilisten ging er noch einige Schritte weiter - wer ihn dabei berät, ist unklar.

Dass er aber einen klaren Plan für sein Vorgehen hat, bezweifelt Eschment - denn nun habe er auch den Teil der Bevölkerung erschüttert, der noch zu ihm steht: "Im Land bestehen große Bedenken gegenüber der russischen Übermacht und ihren eventuellen Interessen am kasachischen Territorium - und wenn dann der Präsident Truppen dieses Landes einlädt, auf Kasachen zu schießen, hat er sich völlig unmöglich gemacht und kann jetzt gar nicht mehr anders regieren als mit aller Gewalt."

Tutumlu ist optimistischer: Im besten Fall könnte der OVKS-Einsatz auf Almaty beschränkt bleiben, wo die Unruhen am schwersten waren, meint sie. "Wenn es dabei bleibt und Ruhe eintritt, könnten Russland und die anderen OVKS-Truppen binnen ein, zwei Wochen abziehen. Tokajew könnte dann sagen: 'Nun, da wir den Banditen das Handwerk gelegt haben, können wir Reformen angehen' und sich tatsächlich darauf einlassen - etwa bei Lokalwahlen auch Kandidaten zulassen, die nicht regierungsnah sind."


Die Expertin räumt jedoch ein: Diesem Szenario entgegen steht die massive Ablehnung des Einsatzes in der Bevölkerung - schon jetzt kursieren Berichte über kasachische Nationalisten, die zum bewaffneten Widerstand gegen die Truppen aufrufen. "Wenn es dann Straßenschlachten mit Toten gibt, wird sich das rächen - und dann könnte sich Tokajew nicht an der Macht halten, ohne völlig diktatorisch zu werden."

Ob Tokajew dem OVKS-Einsatz womöglich auf Druck aus Moskau oder aus Angst vor einem belarusischen Szenario zustimmte, ist nicht bekannt - Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko, der sich nach jahrelangen friedlichen Bürgerprotesten nur mit Unterstützung des Kremls halten kann, sprach öffentlich von einer nötigen "Rettung" Kasachstans, damit das Land nicht wie die Ukraine dem Westen zum "Geschenk" gemacht werde.

Mit einem vergleichbar lange andauernden Eingreifen des Kremls rechnet zumindest Tutumlu jedoch nicht: Russlands Präsident liege viel weniger an Kasachstan als an der Ukraine und Belarus, deren Nationen er in Aufsätzen zu "einem Volk" verklärt. Seinen Einsatz in Kasachstan könne er nur durch eine klare Begrenzung rechtfertigen: "Für Putin ist das eine 'showcase operation', die Autokraten weltweit zeigt: 'Wenn ihr vergleichbare Probleme habt, kommen wir und helfen euch.' Deshalb muss alles nach Plan laufen."

Klar ist: Tokajew hat sich nun von Russlands abhängig gemacht - und kann endgültig nicht mehr selbstständig agieren.


Der Artikel ist verfügbar via: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/kasachstan-machtkampf-101.html


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