Keine Abos und 11 Abonnenten
Artikel

Sacharow-Preisträger Nawalny: Kämpfer, Populist, Symbolfigur

Bildrechte: dpa

In Russland ist er alles andere als ein Held, seine Organisationen sind verboten. Doch Nawalnys unbequeme Haltung imponiert vielen - und hält den Glauben an einen möglichen Wandel in Russland wach.

In Russland dürfte die Nachricht, dass Alexej Nawalny den Sacharow-Preis des EU-Parlaments gewonnen hat, selbst bei Politikinteressierten eher Achselzucken auslösen: Auf symbolische Ehrungen "aus Europa" geben dort auch kremlkritisch eingestellte Menschen nicht viel. Und überhaupt, Nawalny - ein Held ist der 45-Jährige in der öffentlichen Wahrnehmung nicht.

Nawalny selbst sitzt am Tag der Bekanntgabe in einer Strafkolonie, die er in Briefen mit einem "Konzentrationslager" vergleicht - der Jurist und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter verfallen gern ins Derb-Populistische, um sich vom zynisch-aburteilenden Sprachstil der russischen Verwaltung und Regierung abzuheben. Nach eigenen Angaben muss er in Gefangenschaft täglich stundenlang Propagandafilme ansehen und Kleidung nähen. Gewalt ausgesetzt sei er nicht, stehe aber unter Totalüberwachung, teilte er im Sommer über soziale Netzwerke mit.


Betrieben werden seine Accounts auf YouTube, Instagram und Twitter von Nawalnys Team. Auch seine Ehefrau Julia und die Kinder Daria und Zahar posten fleißig zu seiner Unterstützung und setzen ihn geschickt in Szene: Fast schon zum geflügelten Wort geworden ist der Satz "Hallo, hier ist/spricht Nawalny" unter einem Familien-Selfie von der Intensivstation der Berliner Charité, auf die Nawalny im September 2020 nach seiner Vergiftung eingeliefert wurde.


Den überlebten Nowitschok-Anschlag, den sein Rechercheteam auf den russischen Geheimdienst zurückführt, und die anschließende Rückkehr nach Russland samt sofortiger Festnahme nutzte sein Team, um ihn wieder und wieder zum unverwüstlichen Widerstandskämpfer gegen Präsident Wladimir Putin und dessen autoritären Regierungsapparat zu stilisieren.

Tatsächlich aber sind dem Netzwerk aus Organisationen, das er als erster Oppositioneller in Russland überhaupt in diesem Maßstab aufbauen konnte, im Land zunehmend die Hände gebunden: Die Regionalbüros und der "Antikorruptionsfonds" (FBK) sind als "Extremistenorganisationen" in Russland verboten - auf einer Stufe mit den Taliban, slawofaschistischen Gruppen und dem IS.


Auch der Erfolg des Projekts "smarte Abstimmung", bei der Nawalny-Anhänger vor der Dumawahl im Herbst zur Stimmabgabe für den jeweils aussichtsreichsten Oppositionellen aufriefen, blieb überschaubar: Die Behörden hatten viele Kandidaten nicht zur Wahl zugelassen und starken Druck auf Nutzer der entsprechenden Nawalny-Informationsservices ausgeübt.

Seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter bleiben bislang dem Stil treu, mit dem der einstige Blogger und Graswurzelaktivist Nawalny die Oppositionsbewegung geprägt hat: Sie setzen auf ein riesiges Netz aus Social-Media-Accounts, auf dem sie in flapsigem Tonfall Russlands Innenpolitik kommentieren, Korruptionsfälle aufdecken oder mal wieder in eigener Sache über weitere Festnahmen und Gerichtsverfahren informieren.

YouTube-Filme, in denen Investigativrecherche, politische Analyse und derbe Satire fließend ineinander übergehen, erreichen ein Millionenpublikum. Bis zum Frühjahr konnte die Bewegung immer wieder Tausende zu Demonstrationen auf die Straße bringen, auch wenn sie von den Behörden niemals genehmigt werden und stets zu zahlreichen Festnahmen führen.


Die Botschaft kommt vor allem bei Russinnen und Russen im Millennial-Alter an. Wie beliebt oder unbeliebt Nawalny tatsächlich ist, ist im politischen Landesklima schwer zu greifen: Selbst Fürsprecher beteuern stets, Nawalny und seine Bewegung differenziert zu sehen - denn dass politische Gegner sie seit den Anfangstagen als "Handlanger des Westens" diskreditieren, bleibt nach einem Jahrzehnt nicht ohne Wirkung. Auch frühere nationalistische Parolen Nawalnys, von denen er sich inzwischen distanziert hat, werden von Kritikern immer wieder gegen ihn vorgebracht. Der Kreml selbst vermeidet jede Erwähnung Nawalnys - und nennt ihn, wenn es nicht anders geht, "Blogger" oder "Berliner Patient".

Als Politiker nimmt ihn in Russland ohnehin kaum jemand wahr - eher als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Kremlgegner: Die Figur Nawalny verkörpert eine Hoffnung auf Wandel und Abkehr vom "Putinismus", die viele Menschen teilen. Doch da inzwischen selbst eine vor Jahren getätigte Überweisung an ein Team-Mitglied rückwirkend als Terrorunterstützung ausgelegt werden kann, bleiben den Menschen immer weniger Möglichkeiten zur Unterstützung, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Die Offline-Bekenntnisse zu Nawalny werden leiser.

Ob der sich unverzagt und unverwüstlich gebende Nawalny weiter gegen diese Desillusionierung ankommt, hängt auch von Achtungserfolgen und medialer Aufmerksamkeit ab. Dass der Sacharow-Preis mit 50.000 Euro dotiert ist, dürfte seiner Bewegung für eine Weile den Fortbestand erleichtern.

Was Nawalny selbst von der Auszeichnung hält, ist noch nicht bekannt. Doch ein launiger Kommentar des Preisträgers auf Social Media dürfte nicht lange auf sich warten lassen.


Der Artikel ist verfügbar via: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nawalny-sacharow-preis-101.html


Zum Original