Rachmatulla Kujasch hat es geschafft: Dank eines gültigen Visums konnte der 30-jährige Afghane die Grenze zu Usbekistan überqueren - und muss erst zu sich kommen. Noch sei er orientierungslos, sagt er, und wisse nicht, was er tun solle: "Mein Zuhause, meine Arbeit - alles ist dort geblieben."
Der junge Mann ist in der Grenzstadt Termiz angekommen - vergangenen Samstag wurden dort bereits 84 afghanische Soldaten festgenommen, die vor dem Ansturm der Taliban ins Nachbarland geflohen waren. Usbekistan hat nun usbekischen Medienberichten zufolge im Verwaltungsbezirk um die Stadt eine Zeltstadt erreicht, in der aktuell mehr als 100 Geflüchtete auf Afghanistan untergekommen sein sollen. Zudem seien in Usbekistan inzwischen afghanische 650 Militärangehörige auf dem Luftweg angekommen.
Das Außenministerium sendet Botschaften an die neuen Machthaber in Kabul: Man setze sich für die Aufrechterhaltung der "traditionell freundlichen nachbarschaftlichen Beziehungen" ein, hieß es in einer Erklärung, es gelte das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
Aus Usbekistans Bevölkerung gibt es ganz andere Stimmen. Die Taliban seien nie die Freunde Usbekistans gewesen, sagte im Sender Euronews ein Einwohner von Termiz - "solche Nachbarn brauchen wir nicht".
Auch im Nachbarland Tadschikistan hatten afghanische Soldaten noch vor der Machtübernahme durch die Taliban zeitweise Unterschlupf gesucht. Jetzt aber sei die Situation dort ruhig, sagt der Politologe Abdulgani Mamadazímow. Es gebe derzeit "keinen Andrang von Flüchtlingen am Grenzübergang", was aber daran liege, dass die Taliban die Kontrollpunkte übernommen hätten - also könne niemand die Landesgrenze passieren. Seitdem hätten nur einige afghanische Militärs per Hubschrauber und Flugzeug die Grenze überquert und seien nach Tadschikistan geflohen.
Im Ernstfall sei das Land bereit, aus eigenen Kräften bis zu 50.000 Flüchtlinge aufzunehmen, sagt der Politologe. Sollten es mehr werden, könnte sich das negativ auf die Stimmung in der selbst schon armen Bevölkerung auswirken.
Ohnehin stark abgeschottet ist Turkmenistan, die dritte an Afghanistan grenzende Ex-Sowjetrepublik. Das Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung, die sich wohl als Kooperationsangebot mit den Taliban verstehen lässt: Man habe großes Interesse am Wohlhergehen des afghanischen "Brudervolkes" und setze auf eine diplomatisch-politische Lösung aller Probleme - und rechne mit einer baldigen "Normalisierung" der Lage, heißt es darin.
Ohnehin stehe Aschgabad regelmäßig in Kontakt mit den Taliban, was Grenzschutzfragen anbelange. An beiden Kontrollpunkten an der turkmenisch-afghanischen Grenze herrsche Normalbetrieb. Turkmenistan wird seit 2007 von Präsident Gurbanguly Berdymuchammedow zutiefst autoritär regiert und lässt kaum Besucher ins Land - um Asyl dürften vor den Taliban flüchtende Afghanen dort kaum ersuchen.
Humanitäre Hilfe ist in Tadschikistan vorerst Theorie, militärisch hingegen macht sich das Land bereit: Erst kürzlich waren an der tadschikisch-afghanischen Grenze mehrtägige Militärmanöver mit russischen und usbekischen Streitkräften zu Ende gegangen. Nun nahmen 1000 in Tadschikistan stationierte Soldaten der russischen Armee Schießübungen mit Artillerie auf. Zugleich begannen tadschikische Sondereinheiten mit der chinesischen Armee Antiterrorübungen, die mehrere Tage dauern sollen.
Angst, dass die Taliban sich bald an die Eroberung der Nachbarstaaten machen könnten, hat man in Tadschikistan Mamadazímow zufolge aber nicht. Die Taliban würden von der Bevölkerung nur abgelehnt, da sie die Rechte und Freiheiten von Frauen nicht achteten. Mit einem Überschreiten der Grenze rechnet er nicht. "Sie wollen internationale Anerkennung, damit sie von der schwarzen Liste der UN gestrichen werden. Daran werden sie nach und nach arbeiten."
Um internationale Legitimierung zu erreichen, müssten die Taliban sich aber zuerst vom Terror lossagen, meint er. Aber ob sie sich, wie zugesagt, von gewaltbereiten Kräften lösen - aus den eigenen Reihen oder aus ihrem weltweiten Netzwerk - ist ungewiss. Und was aus diesen Kräften werden solle, sei die entscheidende Sicherheitsfrage für die Region: Denn womöglich machten sich anschlagsbereite Ex-Taliban dann in die Nachbarstaaten auf.
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/zentralasien-taliban-101.html
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