UNAIDS-Vizedirektorin Hader über medizinische Fortschritte und Erkenntnisse für neue Epidemien.
tagesschau.de: "Aids geht uns alle an" lautete ein populärer Aufklärungs-Slogan während den Neunzigerjahren, als die HIV-Neuinfektionsrate so hoch war wie seitdem nicht mehr. Heute leben 37,6 Millionen Menschen weltweit mit HIV, etwa 690.000 HIV-positive Menschen sterben jährlich an Folgeerkrankungen. Kann man 2021 überhaupt noch von Personengruppen sprechen, die besonders gefährdet sind?
Shannon Hader: Männer, die Sex mit Männern haben, Menschen in Haftanstalten, Konsumenten von Drogen und Sexarbeitende haben in nahezu jedem Land der Erde ein größeres Ansteckungsrisiko. Sie machen etwa 62 Prozent aller Neuinfektionen aus und werden noch nicht im notwendigen Maß von der Prävention oder Therapie erreicht, die sie benötigen.
Es gibt also noch viel zu tun - und die Corona-Pandemie hat uns nicht gerade geholfen, Fortschritte zu machen. Gerade unsere Präventionsprogramme für Mädchen in Teenageralter und junge Frauen in Subsahara-Afrika haben darunter gelitten. Aber die Pandemie hat auch gezeigt, was die weltweite Politik erreichen kann, wenn sie sich entschließt, zu handeln und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um wieder in die Spur zu kommen und bis 2026 besser dazustehen.
tagesschau.de: UNAIDS geht davon aus, dass sechs Millionen Menschen weltweit gar nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Wie haben Sie diese Zahl ermittelt?
Hader: Die Datenlage und ihre Auswertung ist über die Jahre immer detaillierter geworden. So können wir inzwischen mit Modellrechnungen ermitteln, was bestimmte Datensätze für die Weltbevölkerung, bestimmte Länder, Regionen und so weiter bedeuten. In diese Modellrechnungen fließen Statistiken ein, die die Regierungen der einzelnen Staaten anhand ihrer eigenen HIV/Aids-Aktionspläne erstellen. Außerdem führen Wissenschaftler Studien durch, indem sie Befragungen anstellen und stichprobenweise Tests durchführen - anhand dessen können wir dann unsere Zahlen recht gut ableiten.
Und diese errechneten sechs Millionen HIV-positiven Menschen, die ihren Infektionsstatus nicht kennen, müssen wir erreichen, denn über die Jahre hat sich gezeigt: Menschen, die von ihrer Infektion wissen und ihre eigene Gesundheit durch Therapie schützen, spielen eine wichtige Rolle beim Senken der Infektionsrate. Denn ist die Viruslast einer Person durch Medikamente so gering, dass es nicht mehr festgestellt werden kann, kann sie auch andere nicht mehr mit HIV anstecken.
tagesschau.de: Welche Fortschritte hat die Medizin in 40 Jahren HIV- und Aidstherapie gemacht?
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