Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, im Interview.
tagesschau.de: Der New-START-Vertrag ist gerade verlängert worden. Wie viel Kraft steckt in diesem Schritt, wenn andere Elemente der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland wie der INF-Vertrag und der Open-Sky-Vertrag ausgelaufen sind?
Wolfgang Ischinger: Man kann bekanntlich immer ein Glas als halb voll oder als halb leer betrachten. Lassen Sie mich die positive Sichtweise annehmen: Dass durch diese jetzt beschlossene Verlängerung des Vertrags die Rüstungskontrolle nicht endgültig tot ist, ist eine gute und wichtige Nachricht. Wir müssen diesen Vertrag auch im Zusammenhang mit der Nichtverbreitung nuklearer Waffen und dem Atomwaffensperrvertrag sehen: Der sieht alle paar Jahre eine Revisionskonferenz vor - das waren schon in den vergangenen 20 Jahren hochprekäre Vorgänge, weil viele nicht nuklear bewaffnete Staaten sich zu Recht darüber beschweren, dass die Nuklearmächte ihren Verpflichtungen zu Abrüstungsschritten nicht nachkommen. Wenn nun das START-Abkommen auch erledigt gewesen wäre, hätte man fürchten müssen, dass die nächste Etappe auf dem Weg zur Erhaltung des Nichtverbreitungsvertrags katastrophal geworden wäre.
tagesschau.de: Wo stehen die Bemühungen um Rüstungskontrolle nun, Anfang 2021?
Ischinger: Zunächst einmal umfasst die bisherige nukleare Rüstungskontrolle bilaterale US-amerikanisch-russische Verträge - START, New START, den INF-Vertrag, der leider ausgelaufen ist. Damit haben wir unterhalb der Ebene strategischer Interkontinentalwaffen im Augenblick keine Rüstungskontrollvereinbarungen. Das ist insbesondere für Europa nicht nur bedauerlich, sondern bedrohlich. Denn um unsere eigene Sicherheit zu wahren, war es enorm wichtig, dass man das mögliche Erpressungspotenzial durch Mittelstreckenraketen ausschaltete. Das alles gehört wieder auf die Tagesordnung.
All diese Verträge haben ihre technologische Wurzel in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die Technologie ist aber weit schneller vorangeschritten als die Rüstungskontrollverträge. Heute werden in Russland, in China und in den USA sogenannte Hyperschallsysteme entwickelt; wir wissen von den inzwischen hochentwickelten Cruise-Missile-Systemen, die es auf allen Seiten gibt. Deshalb die Frage: Können wir nicht nur die bisherigen ballistischen Systeme, sondern auch neuartige Waffensysteme wie Drohnen mit Angriffskapazität in die Rüstungskontrollpolitik einbeziehen? Auch solche Waffen sind außerordentlich gefährlich, weil sie heute mit enormer Zielgenauigkeit eingesetzt werden können und mit einer erheblichen Zerstörungskraft wirken.
tagesschau.de: Wie stehen da die Chancen in einer zunehmend multipolaren Welt, in der Washington und Moskau nicht mehr die einzigen Machtzentren sind, sondern auch Peking und andere Hauptstädte?
Ischinger: Soweit wir von Nuklearwaffen sprechen, sind die überwältigende Mehrzahl der in Frage stehenden Systeme US-amerikanische und russische Systeme. Deshalb ist es so wichtig, dass diese beiden Länder wieder zumindest prinzipiell bereit sind, an nukleare Rüstungskontrollverhandlungen anzuknüpfen. China hat sich bisher nicht dazu bereit gesehen. Man muss das chinesische Argument sorgfältig betrachten: Wenn es stimmt, dass das Land nur über wenige Hundert nukleare Systeme verfügt, dann ist es verständlich, dass China sagt: "Erst einmal sollen beide auf unser Niveau herunterrüsten, dann können wir über gemeinsame Abrüstungsschritte reden". Bisher sehe ich wenig Hoffnung, China erfolgreich einzubeziehen - das soll aber nicht heißen, dass man das nicht weiterhin gemeinsam intensiv versuchen sollte.
tagesschau.de: Was müssten die USA und Russland China denn anbieten?
Ischinger: Aus chinesischer Sicht ist wohl die militärische Präsenz der USA im asiatisch-pazifischen Raum die große strategische Herausforderung. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sinn hätte, über ein Abkommen zu reden, in dem beide Seiten sich Mäßigung auferlegen, was ihre militärische Präsenz in der Region angeht - und dass man in diesem Zusammenhang auch über die Reduzierung nuklearer Waffen sprechen könnte. Das wird natürlich in dem Maße schwieriger, wie sich nicht mehr nur die Interessen zweier, sondern dreier, vierer oder weiterer Partner gegenüberstehen. Aber egal, ob sie mit China oder anderen der großen Mächte verhandeln: Das gelingt nur, wenn ein gewisses Maß an Grundvertrauen vorhanden ist. Leider ist dieses Grundvertrauen insbesondere Russland gegenüber in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Es braucht den mühseligen Wiederaufbau gegenseitigen, multilateralen Vertrauens - das gilt für die asiatisch-pazifische, aber auch für die euro-transatlantische Region.
tagesschau.de: Wie soll das gelingen?
Das ganze Interview ist verfügbar via https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ischinger-ruestungskontrolle-new-start-101.html
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