Von Jasper Steinlein, tagesschau.de
Eine unerfahrene Oppositionskandidatin, die in kürzester Zeit viele Wählergruppen hinter sich vereinigt, ein einzelner Demonstrant, der während der Nachwahl-Proteste ein Polizeiauto zurückdrängt: Plötzlich scheint im seit 26 Jahren von Alexander Lukaschenko regierten Belarus, das zugespitzt oft als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet wird, alles anders als sonst - und genau das könnte den neun Millionen Belarussen zum Risiko werden.
Als Präsident setzt Lukaschenko seit jeher auf eine Mischung aus harter Hand und zur Schau gestellter Volksnähe: Er lässt sich mal in Militäruniform, mal mit Trachtenhemd im Weizenfeld fotografieren und "Batka" ("Väterchen") nennen - und sorgt dafür, dass alle wichtigen Entscheidungen durch staatliche Hände gehen, politische Gegner inhaftiert und Protestbewegungen diffamiert und zerschlagen werden.
Doch anders als zuletzt 2017, als die Belarussen gegen eine geplante "Sozialschmarotzer"-Steuer für Arbeitslose protestierten, ebben die Proteste bislang nicht ab, sondern wuchsen sich zur einer breiten Oppositionsbewegung aus, aus der mit Swetlana Tichanowskaja auch eine Präsidentschaftswahl-Kandidatin hervorging. "Es sind Menschen politisiert worden, die sich nie für Politik interessiert haben", erklärt Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.
Diese Politisierung der breiten Bevölkerung, die sich zuvor lieber stumm mit den Verhältnissen arrangiert hatte, führt sie auf drei Gründe zurück: Erstens hätten staatliche Organe und allen voran Lukaschenko in der Pandemie das Vertrauen der Bevölkerung verspielt, indem sie erst mit Leugnung und dann mit Aggressionen reagierten: Statt die Bevölkerung über die Ansteckungsgefahr zu informieren und Kapazitäten in den Polikliniken zusammenzuziehen, tat Lukaschenko das Coronavirus als "Psychose" ab, empfahl Wodka oder Traktorfahren als Gegenmittel und gab Betroffenen selbst die Schuld für ihre Erkrankung - auch, wenn sie tödlich verlaufen war. "Die Menschen haben dann verstanden, dass der Staat einfach nicht in der Lage ist, ihnen gesundheitliche Sicherheit zu geben", sagt Dryndova.
Zweitens sei in der Corona-Krise die wirtschaftliche Lage nach dem Empfinden der Menschen so schlecht wie seit zwanzig Jahren nicht. In einem Land, in dem schon 2018 das Gehalt von sechzig Prozent der Menschen nur für Essen, Kleidung und das nötigste reichte, schlügen die ökonomischen Folgen der Pandemie besonders hart zu.
Drittens hätten die Menschen sich im Wahljahr - nach dem Motto "Alle außer einem" - nach Alternativen gesehnt; doch aussichtsreiche Oppositionelle wie der frühere Bankier Viktor Babariko oder der Ex-Botschafter von Belarus in den USA, Valerij Zepkalo, wurden nicht zur Wahl zugelassen. Mit Tichanowskaja und ihren Mitstreiterinnen Weronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa traten "neue Gesichter" auf die politische Bühne, die Lukaschenko unterschätzte. Doch "die extreme Unzufriedenheit und der Ärger der Menschen waren noch da und wurden in die Politik transportiert", sagt Dryndova.
Dass die 37-jährige Hausfrau Tichanowskaja, die anstelle ihres inhaftierten Ehemanns Sergej Tichanowskij in den Wahlkampf eintrat, so schnell so populär wurde, ist laut Franak Viacorka kein Zufall: "Sie ist im Grunde das Gegenteil von Lukaschenko", sagt der Minsker Journalist und Medienberater, der seit den vergangenen Tagen von der ukrainischen Hauptstadt Kiew aus über die Lage in Belarus berichtet. Dass sie nach eigenen Angaben keinerlei politischen Karriereambitionen hat und mit einem einzigen Versprechen antrat - nämlich nur sechs Monate zu amtieren, um in dieser Zeit den Weg für Neuwahlen zu ebenen - mache sie für viele Wähler glaubwürdiger als die alte Machtelite: "Ihre Persönlichkeit ist sehr gemeinschaftsbildend und inspirierend für viele junge Leute - sie ist ein Zeichen für die Zukunft", beschreibt er.
Sowohl Viacorka als auch Dryndova betonen: Was derzeit geschieht, sei einmalig in der Geschichte von Belarus. Etwa, dass Wahlkampfveranstaltungen der "drei Grazien" auch in den Provinzstädten Hunderte und Tausende Menschen angezogen hätten. Ebenso, dass die 85 Wahllokale, in denen Tichanowskaja auch nach offiziellem Ergebnis nach siegte, sich überhaupt getraut hätten, die Stimmen korrekt auszuzählen.
Nicht zuletzt zeigt auch der Erfolg eines Frauenteams, das Lukaschenko immer wieder als Heimchen am Herd trivialisiert hatte: "Väterchens" Rhetorik kommt heute nicht mehr an. "Sie ist tatsächlich aus der Zeit gefallen. Lukaschenko wirkt wie ein alter, sowjetischer Bürokrat, ein brutaler Mann - wie jemand aus der Vergangenheit", sagt Viacorka.
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