Sein frühestes Interview zu SARS-CoV-2 gab Dmitrij Lwow Ende Januar. „Gegen Ende des Jahres wird es, da bin ich mir sicher, mehr Todesopfer durch die gewöhnliche Grippe geben als durch das Coronavirus", sagte er der russischen Boulevardzeitung „Moskowskij Komsomolez". Eine Aussage, wie sie kurz nach dem Ausbruch einer mysteriösen, neuartigen Lungenkrankheit in Wuhan auch von deutschen Virolog*innen zu hören war - und die hier wie dort viele als Entwarnung verstanden.
Die wichtigsten Fragen tauchten in dem Interview gar nicht auf: Warum eine Corona-Infektion überhaupt tödlich verlaufen kann, ob das Virus nach China womöglich auch in weiteren Erdteilen ausbricht, welchen Nutzen Masken und andere Vorsichtsmaßnahmen haben. All das erklärte der Virologe Mitte Februar in seelenruhigem Ton dem Propagandafernsehsender „Russia Today" (RT). In den Vorspann des Videos „Coronavirus - alles, was Sie wissen müssen", das vier Millionen Mal angeklickt wurde, schafften es aber nur aus dem Zusammenhang geschnittene Zitate wie „Das ist kein tödliches Virus und das ist keine Tragödie" und „Masken werden Sie nicht retten!"
Dabei hatte der 88-jährige Wissenschaftler dem aufgeregt Grimassen schneidenden RT-Reporter mit überlegener Nüchternheit die Grundlagen der Epidemiologie erläutert. „Alle Virusinfektionen, davon bin ich zutiefst überzeugt, kamen vom Tier zum Menschen", führte Lwow in dem etwa 18 Minuten langen Interview aus, schilderte mögliche Übertragungswege von Fledermäusen auf die Bewohner*innen Wuhans, Symptome, Pathogenese, Übersterblichkeit - und warnte vor Verschwörungstheorien. Zitat: „Man muss der Bevölkerung Informationen geben, damit sie versteht und es keine Panik gibt."
An Panikmache sind die 145 Millionen Einwohner*innen Russlands allerdings gewöhnt und fassten Informationen zum Coronavirus wie Lwows Erklärungen deshalb als abstrakte, wissenschaftliche Betrachtungen auf. Zu tief sitzt bei den meisten das Misstrauen gegen Staatsorgane und jegliche Medien - und die Überzeugung, von Woche zu Woche beschworene neue „Krisen" seien nur dazu da, die Bevölkerung für politische Zwecke vor sich herzutreiben. Real spürbare Krisen wie der Zusammenbruch der Sowjetunion, Sanktionen und Rubelverfall nach der Krim-Annexion oder der jüngste Ölpreis-Absturz trafen die Russ*innen schließlich stets über Nacht - und haben sie gelehrt: Wer auf das hört, was in solchen Zeiten in den Nachrichten läuft, hat am Ende nur das Nachsehen.
Immer mehr von ihnen sehnen sich da in vermeintlich ruhigere Zeiten zurück: Nach Angaben des renommierten Lewada-Zentrums denken 75 Prozent der Russ*innen mit positiven Gefühlen an die Sowjetunion, die sie mit Lebensqualität, Stabilität und Weltrang verbinden. Im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat nahmen Forscher*innen de facto den Rang von Aristokrat*innen ein. „Meine Religion heißt Wissenschaft!", lautete ein populärer Spruch. Insbesondere Naturwissenschaftler*innen sollten den Staat vom Schwarzen bis zum Weißen Meer zum fortschrittlichsten der Welt machen. Es war auch jene Zeit, in der Dmitrij Lwow in Russland zu einer Wissenschaftsikone und international zu einem anerkannten Experten für Virologie wurde.
Als Lwow 1931 in Moskau zur Welt kam, griff in Europa der Faschismus um sich...
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