Litauens Hauptstadt ist ein Geheimtipp für Reisende die sonst schon überall waren.
In Litauen, erzählt Stadtführerin Martyna auf ihrer Tour durch Vilnius, laufe an Silvester immer noch der sowjetische Klassiker Ironie des Schicksals im Fernsehen. Im Film fliegt ein betrunkener Geschäftsmann aus Versehen von Moskau nach Sankt Petersburg. Als er ankommt, hat er vergessen, dass er nicht in seiner Heimatstadt ist - sieht doch alles genau so aus wie zu Hause.
So ähnlich kommt es auch mitteleuropäischen Touristen vor, die der 24-Jährigen in Vilnius hinterhertrotten, in der größten Stadt des Baltikums, deren Altstadt die Unesco zum Weltkulturerbe ernannt hat. Litauens Hauptstadt sieht, auf den ersten Blick zumindest, aus wie ein Best-of Europas. Schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster, die sich an den stuckverzierten Häuschen und Terrassencafés der Altstadt entlangwinden, erinnern Reisende an die Innenstadt von Pisa. Vom Nachbau der Gediminas-Burg blicken Besucher so herrlich auf die grüne Stadt wie vom Grazer Schlossberg und am anderen Ufer der Neris entsteht gerade eine Skyline, die im Kleinen Frankfurt am Main nacheifert.
Auf den zweiten Blick sieht man auch die Oberleitungsbusse, mit denen am Flussufer die sowjetische Vergangenheit vorbeirumpelt, und die typisch osteuropäischen Tante-Emma-Läden, in denen Verkäuferinnen die in Regalen gestapelten produktai bewachen.
Aber es sind nicht die Überbleibsel des Kommunismus, auf die Touristen hingewiesen werden. Stadtführerin Martyna spricht über Litauen so, wie das Land sich politisch heute selbst nach außen darstellt.
Bemessen an seiner Fläche ist Litauen kleiner als Bayern - dabei gehörte es noch im 14. Jahrhundert als Teil des Königreichs Polen-Litauen zum größten Staat Europas. Dass diese Zeiten vorbei sind, haben die meisten Litauer nie verwunden, erzählt Martyna und fragt mit Selbstironie: " So, we used to be much larger, will you remember that?" Vielleicht ist der Wunsch nach politischer Größe auch ein Grund, warum das Land die Zeit als Sowjetrepublik stets als Besatzung empfunden hat und sich nach der Wende so entschlossen und ein für alle Mal dem Westen zuwandte.
Litauen sagte sich 1990 als erste Sowjetrepublik von Moskau los und erklärte seine Unabhängigkeit. Bis die letzten russischen Truppen abzogen, dauerte es noch drei Jahre. Sofort danach bewarb sich das Land um die Mitgliedschaft in der Nato. Bis zur Aufnahme verging fast ein Jahrzehnt, doch für die Litauer war sie ein Durchbruch. "Bei seinem Staatsbesuch sagte der damalige US-Präsident George W. Bush: Jeder, der Litauen zum Feind wählt, hat sich auch die Vereinigten Staaten zum Feind gemacht", erzählt Martyna und zeigt auf eine Tafel an der Rathauswand. Dort prangen auf Englisch die Worte des US-Präsidenten. Inzwischen ist die Euphorie verflogen, gibt sie grinsend zu: "Als später all die anderen Staaten in die Nato aufgenommen wurden und er überall das gleiche sagte, haben wir verstanden, dass wir mit unserer Begeisterung vielleicht ein bisschen voreilig waren." Nichtsdestoweniger sind seit der Ukrainekrise im Land US-amerikanische Kampfjets stationiert.
Auch mit der Hinwendung zu Europa hat Litauen keine Zeit verloren. Seit 2004 gehört Litauen zur EU und führte 2015 als letztes baltisches Land den Euro ein. Die Nationalwährung Litas war schon vorher an den Kurs des Euro gebunden worden. So steuerte das Land eisern durch die Wirtschaftskrise hindurch und schaffte den wirtschaftlichen Aufschwung. Die Aufnahme in die Währungsunion hat Investoren aus Dänemark, Schweden und Deutschland ins Land gelockt, die ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Zwar ist die Kaufkraft der Litauer niedriger als im EU-Durchschnitt, doch der Lebensstandard entspricht dem Polens.
Vor allem aus den Nachbarländern Belarus und Lettland reisen Touristen über den Verkehrsknotenpunkt Kaunas, 40 Kilometer hinter der polnischen Grenze, zum Shopping nach Litauen. Wohlhabende Russen zieht es zum Segelurlaub an die Kurische Nehrung, die sich an der Küste das Territorium mit der russischen Exklave Kaliningrad teilt.
Im Rest der Welt ist Litauen als Reiseland noch ein Geheimtipp - doch auch hier schreitet die Globalisierung voran. Aus Deutschland kommen die fünftmeisten Besucher, nach den genannten Ländern und Polen; es gibt längst auch Billigflüge nach Vilnius und Kaunas. Die umgekehrte Internationalisierung funktionierte noch viel schneller: Wie viele Litauer hat Martyna im Ausland studiert und spricht vorzügliches Englisch - in der Schule haben nur die Leute über 35 noch Russisch gelernt. Längst orientiert sich Vilnius an allen Ecken an einem weltweit verbreiteten urbanen Lifestyle: Erst im Contemporary Art Center, derzeit in einer Galerie stellt der österreichische Künstler Erwin Wurm aus. In den Schaufenstern der Boutiquen, an denen Martyna ihre Gruppe vorbeiführt, steht preppy chic im Victoria-Beckham-Stil. Sie selbst trägt ein gemustertes Baumwollkleid und Segeltuchschuhe - im Vergleich zu Osteuropäerinnen aus Riga, Kiew oder Bratislava ein fast legeres Outfit.
Die Relikte der Sowjetzeit klammert Martyna konsequent aus der Stadtführung aus. An einigen Stellen in Vilnius sind sie noch offensichtlich: Das Opernhaus, ein verglaster Siebziger-Jahre-Klotz, sieht aus wie ein geschrumpfter Palast der Republik. Auf den Pfeilern der Stahlbrücke aber, die über die Neris ins Banken- und Geschäftsviertel führt, wurden im Sommer die letzten Statuen aus der sowjetischen Zeit abgebaut, offiziell um sie zu restaurieren - aber ob sie je wieder aufgebaut werden? Bei der russischsprachigen Minderheit Litauens stieß der Schritt jedenfalls auf Kritik. Sämtliche Lenin-Statuen des Landes sind längst in einen Themenpark nahe der Stadt Druskininkai verbannt worden. Wer zur Vergangenheitsaufarbeitung gekommen ist, kann im Grūtas-Park - inoffiziell auch Stalin's World genannt - das Leben in einem Gulag nachspielen.
Das offizielle Tourismus-Angebot des Landes konzentriert sich eher auf das Mittelalter, das viele Litauer als Glanzzeit ihres Staates ansehen. Jetzt, in Zeiten der Suche nach einer nationalen Identität, erwacht bei vielen eine romantische Erinnerung an die Zeit der Maiden und Recken. Der weiße Ritter ziert seit der Unabhängigkeit das Wappen Litauens, das dem Deutschen Orden mehr als ein Jahrhundert lang Widerstand geleistet hat. Die Litauer traten Ende des vierzehnten Jahrhunderts, spät für eine europäische Gesellschaft, vom Heidentum zum Christentum über - aus taktischen Gründen, sagt Martyna, die ihre Gruppe um das Bronzebildnis einer Bärenreiterin versammelt hat. Denn mit christlichen Herrschern ließen sich leichter Bündnisse schließen. Zudem habe jeder einfache Mann, der sich taufen ließ, ein Hemd geschenkt bekommen. "Das hat dazu geführt, dass sich einige Litauer sogar mehrmals taufen ließen."
Спасибо? Ačiū!
Aus dem Alltag allerdings lassen sich kulturelle Einflüsse nicht so einfach zurückdrängen. Nehmen wir das Essen. Da geht es - zum Teil - zwar auch wieder traditionell zu: Zu einem typisch litauischen Gericht gehören seit der frühen Neuzeit Kartoffeln, Roggenbrot, Schmand und vor allem Fleisch. Die Taverne Forto Dvaras, in der Holzgeschirr und Bedienungen in Tracht für urige Atmosphäre sorgen sollen, besuchen längst nicht nur Touristen. Das Nationalgericht cepelinai allerdings, längliche Kartoffelklöße mit Hackfleisch, sind eine klassische Winterspeise. Im Sommer bevorzugen Einheimische šaltibarščiai, eine kalte Suppe aus roter Beete, die ans russisch-ukrainische Borschtsch erinnert.
In diverse Hostels jedoch, schon ab zehn Euro pro Nacht zu haben, ist die globalisierte Vorstellung urbanen Komforts noch nicht vorgedrungen. Warmes Wasser kommt in der Gemeinschaftsdusche nur aus dem Boiler, pro Schlafsaal gibt es nur einen Schlüssel, die Gäste sind trotz der tausend Teppiche im Flur angehalten, Hausschuhe zu tragen. Statt Partys auf dem Gang ist in der Herberge Nachtruhe angesagt: In den Stockbetten liegen berufstätige Gäste aus Belarus, die sozusagen zur Naherholung angereist sind. Zum Frühstück macht Hausherrin Audronė typisch russische Quarkpfannkuchen - und ist erstaunt, wenn man darauf mit spasibo - Danke auf Russisch - reagiert. Zum Glück hat Stadtführerin Martyna nicht versäumt, ihren Tourgästen das Wort auf Litauisch beizubringen: ačiū.