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Stuntfahrerinnen in Hollywood: Mit Vollgas in eine Männerwelt

Die Stuntfahrerinnen Olivia Summers und Dee Bryant haben ihr Handwerk auf abenteuerliche Weise erlernt. In Hollywood kämpfen sie für die Akzeptanz ihrer Kolleginnen – und gegen Männer in Frauenkleidern.

In hohem Tempo pflügten Olivia Summers und eine Freundin auf dem Schneemobil durch die Winterlandschaft außerhalb von Toronto. Summers war Beifahrerin, als ihre Freundin bei voller Fahrt eine Klippe übersah und das Schneemobil abhob. Die beiden landeten samt Schneemobil - mit voller Wucht, aber unverletzt - im Schnee mehrere Meter tiefer. "Ich dachte nur: Oh, das ist aber ein krasses Gefühl!", erinnert sich Summers.

Damals war sie ein Teenager. Es war ihr erster Adrenalinkick auf einem motorisierten Gefährt. Heute ist Summers professioneller Adrenalinjunkie in Hollywood. Seit 15 Jahren steuert die Stuntfahrerin Limousinen, SUV oder Busse. Sie liefert sich Verfolgungsjagden, driftet um Kurven oder mit qualmenden Reifen im Kreis, crasht kontrolliert in andere Autos.

Trotzdem hörte sie vergangenes Jahr von einem Werbefilmproduzenten, bei dem sie sich bewarb: "Ich wusste gar nicht, dass es auch Stuntfahrerinnen gibt. Wir setzen einfach einem Mann eine Perücke auf." Summers lief genervt zu ihrem Auto, erzählt sie, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und entschied: Sie würde eine Vereinigung von Stuntfahrerinnen gründen. Einen Anruf später hatte sie ihre Kollegin Dartenea "Dee" Bryant mit an Bord. Seit Juli 2020 führen Summers und Bryant die Association for Women Drivers (AWD).

Die beiden wissen, was sie tun. Summers arbeitete lange als Fahrlehrerin in einer Stuntschule. Ihr Mentor und enger Freund ist Jim Wilkie, der für seinen Truck-Überschlag in "The Dark Knight" in der Branche legendär ist. Summers ist gegen Jay Leno in seiner Show "Jay Leno's Garage" um die Wette gefahren und hat Kylie Jenner in einem Adidas-Spot hinterm Steuer gedoubelt.

Bryant hat einen Quereinstieg hinter sich: Sie fuhr als Jugendliche im Auto ihres Freundes Straßenrennen in Los Angeles. Um nach dem Tod ihrer Mutter für ihren 14-jährigen Bruder zu sorgen, suchte sie sich einen Job im Straßenbau. "Ich wollte aber nicht den ganzen Tag mit dem Presslufthammer arbeiten. Ich wollte die Baumaschinen fahren", sagt sie.

Drei Jahre arbeitete Bryant beim Ausbau der Interstate 105, einer der zentralen Verkehrsadern in Los Angeles. Dort lernte sie, alle schweren Maschinen zu lenken. Mit dem Erdlader veranstalteten sie und ihre Kollegen Wettrennen, erinnert sie sich: Wer fuhr bis zur Mittagspause die meisten Ladungen? Bald driftete sie mit dem Koloss um die Kurven. In ihren 20 Jahren in der Stuntbranche war Bryant Double für Angela Bassett und fuhr für den Film "Fear the Walking Dead" ein MRAP-Militärfahrzeug.

Mit Gründung der AWD wenden sich Summers und Bryant gegen sexistische und rassistische Praktiken in Hollywood: "Wigging" heißt die Methode, bei der Stuntfahrer sich eine Perücke aufsetzen und Frauenkleider anziehen, wenn sie eine Frau doubeln. Die Gewerkschaft für Angehörige der Filmindustrie, SAG-AFTRA, nennt "wigging" eine inakzeptable Praxis, weil sie Frauen in der Profession benachteiligt, und hat 2018 Regeln aufgestellt: Produzenten und Stuntkoordinatoren müssen für Jobs Stuntprofis suchen, die in Geschlecht und Ethnie der zu doubelnden Person gleichen. Nur wenn sie keine geeigneten Kandidaten finden, können sie Männer oder Weiße für Szenen mit Frauen oder Personen einer anderen Hautfarbe einsetzen.

Die faule Ausrede gilt nicht mehr

In der Praxis, sagt Bryant, werden die Vorschriften oft ignoriert. "Die Compliance-Officer der SAG-AFTRA besuchen das Set nur selten. Die gucken auf den Papierkram auf ihrem Schreibtisch und glauben, was da steht." Während Hollywood öffentlich über Diversität, Rassismus und Identität diskutiert, gibt es am Set weiter sogenannte paint-downs. Das ist nichts anderes als "blackfacing": Weiße Stuntprofis werden mithilfe von Make-up in eine braune oder schwarze Person verwandelt.

Die Verletzungen dieser Regeln bewegte Stuntfahrerin Deven MacNair 2018 sogar zu einer Klage gegen die Produktionsfirma MGM und SAG-AFTRA: Obwohl MacNair am Set für den Horrorfilm "The Domestics" einen Autostunt für die Schauspielerin Kate Bosworth durchführen sollte, drehte der Stuntkoordinator die Szene in Perücke und Frauenkleidung selbst.

Summers und Bryant wollen mit der AWD für Sichtbarkeit sorgen. "Damit die faule Ausrede nicht länger gilt, dass niemand von unserer Existenz wüsste", sagt Summers. Von rund 4000 Stuntprofis sind nach Schätzungen von Summers und Bryant rund zehn Prozent Frauen. Die Zahl der Fahrerinnen lässt sich an zwei Händen abzählen. Der Grund: "Bei einer Ganzkörperaufnahme eines Sturzes kann kein muskulöser Mann für eine Frau performen", sagt Bryant. Bei Autostunts ist das anders. "Da sieht man die Fahrenden nicht vollständig."

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Stuntfahrerinnen sind auch deshalb rar, weil Aus- und Weiterbildung teuer sind. Das Auto 180 Grad herumschleudern, Drifting, Überschläge nach vorn oder seitlich müssen gelernt und zur Sicherheit aller Beteiligten regelmäßig geübt werden. Summers und Bryant besitzen eigene Drift-Autos für ihre Übungsfahrten. Die Manöver sind hart für die Autos: "Gefühlt fahre ich nach jeder Drift-Session mit meinem Mustang in die Werkstatt, für neue Reifen oder andere Reparaturen", sagt Summers.

Die AWD-Gründerinnen gehören zu den wenigen Profis, die auch Trucks und Busse lenken können. Auch eine Zertifizierung als "commercial driver" haben beide, mit der sie für Werbespots fahren dürfen. Und mittlerweile koordinieren sie selbst: Bryant übersah vergangenes Jahr die Autoszenen für den "Equality Spot" von Nike, in den der Sportartikelhersteller 30 Millionen Dollar investierte.

Die Werbeindustrie erleben die beiden als noch verschworener als die Filmbranche. Weil in sehr kurzer Zeit viel Geld verdient werden kann, gibt es regelrechte Netzwerke. Immer wieder kommt es vor, dass Stuntkoordinatoren oder andere Teammitglieder ihre Freundinnen oder Ehefrauen hinters Steuer setzen, obwohl sie nicht ausgebildet sind.

Für Summers und Bryant gilt: je anspruchsvoller, desto besser. Bryant hat besonderen Spaß daran, das Auto kontrolliert zu crashen, weil es dafür ein genaues Timing braucht. Beide lieben Verfolgungsjagden und Ausweichmanöver bei hoher Geschwindigkeit. "Da muss man genau bei der Sache sein, um nicht in Kamerawagen oder Statisten zu fahren", sagt Summers. Genauso wie Autos nach komplizierten Manövern genau an der richtigen Stelle für die Kameras zum Stehen zu bringen.

In den kommenden Monaten wollen sie unter Bryant eine Motorsport-Division aufbauen und kontinuierlich neue Fahrerinnen engagieren. Ihr Ziel: AWD als Eliteteam von Stuntfahrerinnen zu etablieren. "Es geht uns nicht darum, die Männer zu verdrängen", sagt Summers. "Wir wollen einfach nur die Jobs, die uns zustehen."

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