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Start mit 328.000 Minuten Verspätung: Wie Pete Buttigieg die US-Bahn retten soll

Durch alte Stationen wie in Phoenix pfeift nur noch der Wind: Die Bahn liegt in weiten Teilen der USA darnieder. Verkehrsminister Pete Buttigieg und die Biden-Regierung wollen mit viel Geld eine Wende einleiten.

Südwestlich vom Stadtzentrum in Phoenix sticht ein sandfarbener Bau aus den grauen Büroblöcken heraus. Der verwitterte Schriftzug "Union Station" weist ihn als Bahnhof aus, ein schwarzer Zaun versperrt den Zugang.

1923 gebaut, band er die Stadt in einer ihrer ersten Wachstumsphasen ans Schienennetz an. 1985 wurde die Station, erbaut im Stil der spanischen Missionsarchitektur, ins nationale Verzeichnis der historischen Gebäude aufgenommen.

Ein Jahrzehnt später war auch der Zugverkehr in Phoenix Geschichte: 1996 wurde die Union Station stillgelegt. Phoenix ist heute mit 1,6 Millionen Einwohnern eine der größten Städte der USA - und hat keine Zuganbindung für Bahnreisende.

Sie steht damit exemplarisch für den Niedergang des Verkehrsträgers. "Die USA wurden wie viele Industrieländer mithilfe eines starken Schienensystems aufgebaut, das sich durch das gesamte Land zog", sagt Yonah Freemark, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Thinktank Urban Institute. "Aber das Schienensystem hat nicht mit dem Wachstum des Landes mitgehalten." Auch Großstädte wie Columbus, Louisville oder Nashville werden heute nicht von Passagierzügen angefahren.

Das soll sich in den kommenden acht Jahren mit Joe Bidens Zwei-Billionen-Dollar-Infrastrukturplan ändern. Neben 114 Milliarden Dollar zur Erneuerung von Straßen und Brücken sieht er 80 Milliarden Dollar Investitionen in den Schienenverkehr und 85 Milliarden Dollar für den Nahverkehr vor. Über das Paket muss noch der US-Kongress befinden. Stimmt er zu, fällt die Umsetzung Verkehrsminister Pete Buttigieg zu, der im Vorwahlkampf gegen Biden angetreten war.

Der Ex-Bürgermeister von South Bend (Indiana), oft nur "Mayor Pete" genannt, trommelt bereits für einen Ausbau des Passagierverkehrs der Zuggesellschaft Amtrak und denkt laut über die Einführung von Hochgeschwindigkeitszügen nach. Ein besseres Verkehrsangebot auf der Schiene würde das Land ein Stück aus seiner Abhängigkeit vom Auto und vom Flugzeug befreien und beitragen, den massiven Ölkonsum zu reduzieren.

Doch den US-Schienenverkehr zu verbessern, ist eine gewaltige Herausforderung. Im Jahr 2018 durchzogen laut einem Report des US-Verkehrsministeriums 220.240 Kilometer Schienen das Land, beinahe ausschließlich in privater Hand. Darauf rollt vor allem der Gütertransport.

Amtrak betrieb für den Personenfernverkehr zuletzt 34.451 Schienenkilometer und fuhr 500 Stationen an. 2019 beförderte das Unternehmen 32,6 Millionen Passagiere. Die Deutsche Bahn kam im Fernverkehr 2019 auf 150,7 Millionen Fahrgäste. Der Großteil der Kundschaft in den USA nutzt Strecken entlang des Nordostkorridors, der Großstädte an der Ostküste wie Boston, New York, Washington und Philadelphia verbindet.

Während der Güterverkehr mithilfe von Trassenpreisen sein Schienennetz selbst finanziert und durchschnittlich 260.000 Dollar pro 1,6 Kilometer Schiene investiert, ist der Personenverkehr auf staatliche Investitionen angewiesen. Von denen gibt es aber seit Jahren zu wenig – deshalb plagt den Personenverkehr laut einem Report der American Society of Civil Engineers ein Reparaturstau von 45,2 Mrd. Dollar. Der schlechte Zustand der Schienen und die Tatsache, dass sich Passagierzüge auf beinahe allen Strecken außerhalb des Nordostkorridors die Schienen mit Güterzügen teilen müssen, führten laut Berechnungen der Ingenieure im Jahr 2019 zu 328.000 Minuten Verspätung.

Der Schienenverkehr leidet bis heute unter dem Prioritätenwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Regierung landesweit den Ausbau von Highways und Flughäfen förderte. »Die Nachkriegszeit mit ihrem steigenden Wohlstand, dem Bau von Highways und der White Flight aus den Städten führte zu einer Situation, in der das Eisenbahnsystem sehr schnell kollabierte«, sagt Freemark. Der Begriff »White Flight« bezeichnet die Stadtflucht vieler Weißer in die Vororte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als 1970 das Bahnunternehmen Penn Central – damals der sechstgrößte Konzern des Landes – den bis dato größten Bankrott der US-Geschichte machte, steuerte die Regierung von Richard Nixon mit der Gründung des halbstaatlichen Passagierzugunternehmens Amtrak gegen. Doch die Förderung dümpelte weiter dahin.

Mit den Geldern der Biden-Regierung will Amtrak nun bis 2035 weitere 20 Millionen Passagiere im Jahr befördern, den Nordostkorridor erweitern, Chicago zu einem Knotenpunkt im Mittleren Westen und Atlanta zum Drehkreuz im Süden des Landes ausbauen. Freemark sieht Herausforderungen bei der Qualität des Service. Auf der Strecke zwischen Cincinnati und Chicago verkehren Züge derzeit dreimal wöchentlich und fahren um 1 Uhr morgens ab. »Wenn wir diese Art von Service bekommen, wird er für große Städte nicht viel verändern.«

Auch Phoenix könnte im Zuge des Infrastrukturplans eine zweite Chance bekommen. Amtrak untersucht die Einführung einer Route, die 2035 Tucson und Phoenix in Arizona mit Palm Springs und Los Angeles in Kalifornien verbinden könnte.

Eine Rückkehr von Amtrak wäre wichtig für die Metropole, sagt Michael Kuby, Professor für geografische Studien und Stadtplanung an der Arizona State University. Den größten Nutzen hätten Zehntausende Autofahrer, die täglich auf der Interstate I-10 zwischen Tucson und Phoenix pendeln. Derzeit fährt Amtrak nur einen Halt in Maricopa knapp 60 Kilometer südlich von Phoenix an – laut Kuby ein schlechter Ersatz. »Dass der Bahnhof im Jahr nur von 11.000 Passagieren genutzt wird – gerade mal 30 am Tag – ist Beweis genug, wie ungünstig er für die Bewohner der Region ist«, sagt Kuby.

Seit Jahrzehnten bemüht sich Phoenix um die Aufwertung des Zentrums, etwa mit der Ansiedlung eines Baseballstadions, Wissenschaftsmuseums und der Arizona State University und mit Aktionen wie einem regelmäßigen Tag der offenen Galerien. »Die Wiedereröffnung der historischen Union Station wäre ein entscheidender Schritt, um diesen Fortschritt in die angrenzenden Bezirke zu tragen«, sagt Kuby.

Nicht zuletzt wäre der Bahnhof ein Bindeglied zum Straßenbahnsystem Light Rail, das 2008 eingeführt wurde und seitdem stetig erweitert wird. Derzeit fährt die Straßenbahn auf 45 Kilometern Schiene 38 Stationen an. »Für eine Stadt wie Phoenix mit ihrer ausufernden Fläche haben die Planer einen großartigen Job gemacht«, sagt Kuby. »Sie haben eine Route entworfen, die viele Ziele verbindet: Jobs, Schulen, Attraktionen – alle nur wenige Gehminuten von den Stationen entfernt.« Die jüngste Erweiterung soll die Linie bis in den unterversorgten Süden der Stadt erweitern.

Auch mit Ausbau der Tramlinien und einer Amtrak-Verbindung werden Bürger in Phoenix auf das Auto aber so schnell nicht verzichten können. »Wir werden nie New York oder Chicago sein«, sagt Kuby. »Aber eins ist sicher: Wenn wir keine Alternativen schaffen, garantieren wir, dass wir künftig noch mehr aufs Auto angewiesen sind.«

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