Weg mit dem Teufelszeug! Eine Allianz aus frommen Christen und grimmigen Frauen trieb die Vereinigten Staaten in die Abstinenz. Vor genau 100 Jahren wurde Alkohol verboten. Das ging nicht lange gut.
20 Träger hoben den Sarg von John Barleycorn am 16. Januar 1920 aus dem Zug und luden ihn auf einen Wagen. Gut 10.000 Trauergäste folgten zur Kirche von Norfolk im US-Bundesstaat Virginia. Dort hielt Billy Sunday - einst Baseballstar, nun gefeierter Massenprediger - die Trauerrede: "Leb wohl, John. Du warst Gottes schlimmster Feind und der beste Freund der Hölle." Satan persönlich, ein kostümierter Kerl mit Teufelsmaske, saß unter den Gästen und wand sich in großer Trauer.
Diese Gemeinde verabschiedete keinen gewöhnlichen Verstorbenen: John Barleycorn war ein Pseudonym für Bier und Whiskey und der 16. Januar 1920 der Vorabend der Prohibition; landesweit trugen Amerikaner auf symbolischen Beerdigungen den Alkohol zu Grabe. Im Jahr zuvor hatte Nebraska als letzter von 36 US-Bundesstaaten den 18. Zusatzartikel zur Verfassung ratifiziert, der Produktion und Verkauf von Alkohol landesweit untersagte. Nach einjähriger Übergangsphase trat am 17. Januar 1920 das Prohibitionsgesetz in Kraft, der Volstead Act.
Kurz nach Mitternacht versprach Marineminister Josephus Daniels in einer Kirche in Washington DC: "Kein Mensch wird je einen US-Kongress erleben, der die Durchsetzung dieses Gesetzes abschwächen wird. Der Saloon ist so tot wie die Sklaverei." Mit ihm feierten Vertreter der beiden prägenden Bewegungen, die Amerika in die Abstinenz gedrängt hatten: die Women's Christian Temperance Union (Vereinigung Christlicher Frauen für Alkoholabstinenz) und die Anti-Saloon League.
Die Befürworter hofften, ein nüchternes Leben befördere harmonischeres Familienleben, Sicherheit am Arbeitsplatz und gesetzestreue Bürger. Doch zahlreiche Amerikaner empfanden diesen Regierungseingriff in ihren Lebensstil als zu weitreichend. Die Prohibition machte brave Bürger über Nacht zu Gesetzesbrechern. Fortan tranken sie in geheimen Bars, brannten illegal Schnaps, schmuggelten billigen Fusel und teure Importe aus Kanada oder Europa. Das "noble Experiment" hielt sich 13 Jahre und blieb stets umstritten.
Alkohol bedrohte den häuslichen FriedenNoch bis Mitte des 19. Jahrhunderts tranken viele US-Bürger täglich Apfelwein oder Bier zu den Mahlzeiten. Ärzte rieten Patienten sogar zum Genuss von Alkohol statt ungefiltertem Wasser, auch Husten oder Magenprobleme wurden mit Alkohol behandelt. Als immer mehr Farmer Getreide anbauten und den daraus destillierten Schnaps anstelle von Fruchtwein und Bier tranken, entwickelte sich ein gefährlicher Trend.
"Alkoholkonsum war ein Zeichen von Männlichkeit, aber es nahm auch die Männlichkeit: Man trank, um zu zeigen, wie männlich man war - doch plötzlich konnte man seine Familie nicht mehr ernähren, seinen Job nicht mehr machen, wurde gewalttätig", sagt Historikerin Catherine Gilbert Murdock in der Dokumentation "Prohibition".
Männer versoffen ihren kargen Lohn oder kamen prügelnd nach Hause. Frauen und Kinder erlebten häusliche Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und Verarmung. Armenhäuser und Anstalten waren überfüllt mit Süchtigen. Alkohol zerstörte das häusliche Leben - so sahen es immer mehr Frauen. Sie beschworen ihre Männer, weniger zu trinken.
Erste lokale "Temperance"-Vereinigungen entstanden. Sie setzten sich für moderaten Alkoholkonsum ein, forderten bald schon totale Abstinenz und überredeten Ladenbesitzer, keinen Alkohol zu verkaufen. Auf Knien beteten sie vor Bars und beschworen Barbetreiber. Die Kampagne zeigte erste Erfolge, bis 1861 der Bürgerkrieg ausbrach - für viele Amerikaner war das Grauen des Krieges nüchtern nicht zu ertragen.
Nach Kriegsende forderten Frauengruppen der "Woman's Christian Temperance Union" (WCTU) Mäßigung und Abstinenz. Ihre Leitung übernahm 1879 die Lehrerin Frances Willard. Die WCTU sah die Sittsamkeit der Frauen als Waffe der Gesellschaft gegen Alkohol, Glücksspiel und andere Sünden. Auf Reisen durchs Land hielt Willard flammende Reden: "Es tobt ein Krieg darum in Amerika, ein Krieg der Mütter und Töchter, Schwestern und Ehefrauen." Während Pfarrer die Türen ihrer Kirchen nur einmal oder wenige Male pro Woche öffneten, "knirschen die zerstörerischen Mühlen der Whiskeyshops jeden Tag der Woche, jede Woche eines jeden Monats und jeden Monat eines jeden Jahrs". Bald lehrten Grundschulen im ganzen Land Abstinenz. Lehrmaterialien zeigten verfärbte Organe und warnten vor spontaner Selbstentzündung bei Alkoholgenuss.
Mit der Axt in die BarGeschickt verknüpfte Willard zudem die Anliegen der Temperance-Aktivistinnen und der Suffragetten - nur wenn Frauen an der Wahlurne mitentscheiden könnten, hätten sie eine Chance, den Feind Alkohol zu bekämpfen. Eine profitable Allianz für beide Seiten. Das Frauenwahlrecht wurde im selben Jahr eingeführt wie die Prohibition.
Nicht jeder Aktivistin war frommer Protest genug. So verschrieb sich Carry Nation dem Kampf gegen Alkohol, nachdem ihr erster Ehemann an den Folgen seiner Sucht gestorben war. Erst setzte sie auf friedlichen Protest mit der WCTU, vergebens. Dann betrat sie im Juni 1900 einen Saloon in Kiowa (Kansas), schob den Barmann zur Seite und zertrümmerte die Flaschen hinter der Bar mit Steinen. Drei Bars zerstörte sie an diesem Tag. Carry Nation tauschte ihre Steine bald gegen eine Axt ein und wurde berüchtigt für ihre Angriffe, die "Hatchetations" ( hatchet ist eine kleine Axt).
Noch mehr religiösen Eifer zeigte die Anti-Saloon League (ASL), getragen von protestantischen Christen. Als der Anwalt Wayne Wheeler 1904 die Leitung übernahm, begann eine der ersten aggressiven Lobby-Kampagnen in der amerikanischen Politik. Zunächst unterstützte die League den 16. Zusatzartikel zur US-Verfassung, der die Einkommenssteuer einführte. Das machte die Regierung weit weniger abhängig von ihrer bis dato größten Einkommensquelle: Steuern auf Alkohol.
Die ASL druckte monatlich 300 Tonnen politische Schriften und schickte sie mit unmissverständlicher Botschaft an Parlamentarier: Sag uns deine Haltung zum Alkohol - und dann entscheiden protestantische Wähler, ob du Abgeordneter bleibst oder nicht. Bis 1915 verabschiedeten 17 Bundesstaaten Alkoholverbote. Doch regionale Regelungen waren den Abstinenzlern nicht genug. Ein landesweites Verbot sollte her.
Diese Deutschen: "Liberty Cabbage" statt SauerkrautWas ihnen in die Karten spielte: Die Vereinigten Staaten wandelten sich im 19. Jahrhundert zur modernen Industrienation und wuchsen extrem durch den Zustrom an Einwanderern. Für sie waren Saloons wichtige Treffpunkte mit Landsleuten. Viele andere Amerikaner dagegen störten sich an den "Einwanderer-Bars".
Einige deutsche Immigranten hatten unterdessen Brauereien gegründet. 1850 wurden USA-weit noch 36 Millionen Gallonen Bier produziert, 1870 bereits 550 Millionen. Adolphus Busch hatte mit seinem Schwiegervater die mächtige Brauerei Anheuser Busch aufgebaut. Er hielt gegen die Temperance-Kampagne und unterstützte die German American Society: ein Zusammenschluss deutscher Bierbrauer, der sich offen für die Bewahrung der deutschen Kultur der Einwanderer einsetzte.
"Bierkönig" Busch trug dazu bei, den Vormarsch der Abstinenzler aufzuhalten. Doch im Ersten Weltkrieg schlug die Stimmung im Land um. Alles Deutsche sollte verschwinden - sogar Sauerkraut wurde in "Liberty Cabbage" (Freiheitskraut) umbenannt.
Die Abstinenz-Aktivisten triumphierten am 10. Februar 1913, als der texanische Senator Morris Sheppard den 18. Zusatzartikel zur Verfassung einbrachte. "Ein Jahr nach Ratifizierung dieses Artikels ist die Produktion, der Verkauf oder Transport von berauschenden Alkoholen innerhalb, der Import in oder der Export aus den Vereinigten Staaten und allen Gebieten unter deren Jurisdiktion verboten", lautete der erste Absatz.
Konjunkturprogramm für GangsterASL-Lobbyist Wheeler machte mit dem Senat einen Deal: Die Abstinenzler erhielten ein Zeitlimit von sieben Jahren, um den Zusatzartikel mit einer Drei-Viertel-Mehrheit der damals 48 US-Bundesstaaten ratifizieren zu lassen. Sie schafften es in knapp 13 Monaten. Wie weit die Prohibition reichte, regelte der Volstead Act. Am Entwurf hatte Wheeler mitgewirkt - kein Wunder, dass schon Getränke mit 0,5 Volumenprozent Alkohol als berauschend galten.
Ab Januar 1920 galt die Prohibition flächendeckend. Doch die Amerikaner wurden keineswegs über Nacht strikte Abstinenzler. Schnell zeigte sich, dass die Verabschiedung des Gesetzes eine Sache war, die Durchsetzung eine ganz andere. So erwischte die Polizei in Seattle schon nach wenigen Wochen eine Gruppe Männer beim Alkoholschmuggel, unter ihnen Roy Olmstead.
Der junge Polizeibeamte wurde entlassen und musste 500 Dollar Strafe zahlen. Als Profischmuggler schmierte Olmstead Polizisten und Politiker bis hin zum Bürgermeister, viele Menschen arbeiteten für ihn. Weil seine Leute weder Waffen trugen noch blutige Revierkämpfe ausfochten, wurde Olmstead in Seattle als the good bootlegger (der gute Schmuggler) bekannt.
Der Alkoholschmuggel boomte bald überall, damit auch das organisierte Verbrechen. Dennoch hielt sich die Prohibition 13 Jahre. Erst der Ausbruch der "Großen Depression", der verheerenden Wirtschaftskrise zusammen mit dem Gangstertum und seinen vielfach tödlichen Folgen, machte ihr den Garaus. 1933 hatten die Amerikaner endgültig genug vom strikten Alkoholverbot, der 18. Zusatzartikel wurde aufgehoben - bis heute der einzige, der je revidiert wurde.
Der wahrscheinlich erste Amerikaner, der wieder legal Alkohol trank, hieß Benjamin DeCasseres: In einer Bar in Manhattan orderte der New Yorker Autor am 5. Dezember 1933 einen Highball und stürzte den Cocktail hinunter. Es geschah zweieinhalb Sekunden, nachdem ein zuvor bestelltes Telegramm eintraf und vom Ende der Prohibition kündete.