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Die forensische Anthropologin identifiziert im ostbosnischen Tuzla die Toten von Srebrenica. Der Überlebende Ramiz Nukić sammelt in den Wäldern Knochen von Ermordeten. Ihre Arbeit ist wichtig für die Aufklärung von Massenmorden. Von Keno Verseck

Zehntausende menschliche Knochen hat die Anthropologin Dragana Vučetić schon in den Händen gehabt, Tausende Skelette von Ermordeten wieder zusammengesetzt. Sie macht das seit 16 Jahren, empfindet aber keine Routine. Man kann sich nicht an das Grauen gewöhnen, sagt sie.

Diesmal liegen im Untersuchungsraum die Überreste einer Frau, eines kleinen Kindes und eines Säuglings. Sie wurden auf einem Friedhof im ostbosnischen Ort Bratunac gefunden, wenige Kilometer nördlich von Srebrenica. Die drei wurden während des Bosnienkrieges ermordet und verscharrt.

Die Anthropologin zieht ein hellblaues Arbeitshemd an, streift Latexhandschuhe über und schüttet den Inhalt ­eines Plastiksackes vorsichtig auf einen Autopsietisch: ein größerer Schädel, die Hälfte eines kleineren Schädels, Dutzende Knochen, Erd- und Pflanzenreste, ­kleine Textilfetzen. Die Überbleibsel des ­Säuglings sind separat verpackt. Nun muss Vučetić die Knochen sortieren, fotografieren, vermessen, das geschätzte Alter und Geschlecht der Personen bestimmen und eine Entnahme von Knochen-DNA vorbereiten, damit eine Identifizierung der Toten möglich ist.

Vorsichtig beginnt sie, die Knochen zu untersuchen. Sie erkennt, dass es sich bei der erwachsenen Person tatsächlich um eine junge Frau handelt, wohl um die 25 Jahre alt. Bei dem Kind vermutet sie ein Alter von fünf bis sechs Jahren. Stück für Stück ordnet sie die Knochen auf den beiden Autopsietischen an, säubert manche, prüft andere auf mögliche Verletzungen.

Schmerzhaft, aber hoffnungsvoll

Nach zwei Stunden liegen die Knochen jeweils zu einer Skelettform angeordnet. Ernst schaut Vučetić auf die beiden Skelette, während sie ihre Handschuhe abstreift. Es ist ein seltsamer Moment. Schmerzhaft, aber auch hoffnungsvoll: Am Anfang war nur ein Knochenhaufen. Nun liegen dort die Silhouetten zweier Menschen. Vielleicht wird bald klar, wer sie waren und wie sie starben. Nun bekommen sie, Schritt für Schritt, ihre Identität zurück.

Dragana Vučetić, 42 Jahre alt, arbeitet als forensische Anthropologin am Podrinje Identification Project (PIP) in der ostbosnischen Großstadt Tuzla. Dort werden seit 2004 die Opfer des Völkermordes von Srebrenica und die Opfer anderer Massenmorde in Ostbosnien während des Krieges in den Jahren 1992 bis 1995 identifiziert. Das Projekt wurde von der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) ins Leben gerufen, die 1996 für die verschwundenen Opfer des Bosnienkrieges gegründet worden war und die inzwischen weltweit in Kriegs-, Konflikt- oder Katastrophengebieten tätig ist.

Am PIP Tuzla wurden dank vergleichender DNA-Analysen von Ermordeten und ihren überlebenden Angehörigen bisher rund 7.000 vermisste Personen aus Ostbosnien identifiziert, die meisten von ihnen Opfer des Völkermordes von Srebrenica. Dabei töteten Soldaten der bosnisch-serbischen Armee und Kämpfer aus Serbien, angeführt vom damaligen General Ratko Mladić, im Juli 1995 binnen weniger Tage mehr als 8.000 Menschen, fast ausschließlich bosniakische Männer und Jungen. Es war das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Für Angehörige von unschätzbarer Bedeutung

Die Arbeit des PIP ist von unschätzbarer Bedeutung: Einzig durch sie können Angehörige verschwundener Ermordeter die sterblichen Überreste ihrer Liebsten zurückerhalten und bestatten; oft erfahren sie auch, wo und wie sie getötet wurden. Viele können erst danach mit dem Tod der Angehörigen abschließen - oft nach Jahren oder Jahrzehnten quälender Ungewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten. Und die Arbeit des PIP ist auch von internationaler Bedeutung: Die Technologie der Extraktion von Knochen-DNA und der Abgleich mit DNA von Familienangehörigen wurde erstmals in Tuzla eingesetzt und perfektioniert. Sie kommt inzwischen weltweit bei der Identifizierung von Vermissten zur Anwendung.

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