Im Haus der Presse in Dresden genießt man bei gutem Wetter von der gewaltigen Terrasse im zwölften Stock einen königlichen Ausblick. Als Mitarbeiter der "Sächsischen Zeitung" kann man in diesem Ambiente sein Mittagessen einnehmen. Freitags gibt es zum Beispiel Grießbrei, den isst Chefredakteur Uwe Vetterick immer und feixt darüber mit dem Koch. Zwölf Jahre ist er schon im Amt, doch scheint er gerade jetzt richtig aufzublühen. Die "Sächsische Zeitung" muss den Sprung in den bezahlten Online-Journalismus meistern. Als Regionalblatt beschränkt sich die Bekanntheit der "Sächsischen" zwar vor allem auf das Bundesland Sachsen, doch werden unter Vettericks Ägide Dinge ausprobiert, die auch in anderen Teilen Deutschlands Interesse wecken dürften. Die „SZ", wie sie hier genannt wird, gehört mit täglich knapp 200.000 verkauften Zeitungen und 180 angestellten Journalisten zu den größten Zeitungen Deutschlands. Kurz vor der Landtagswahl, bei der die AfD zweitstärkste politische Kraft werden könnte, lässt sich "die Sächsische" in die Karten schauen.
Im brandneuen „NewSZroom" sieht es ein bisschen nach „Star Trek"-Kontrollbrücke aus. An einem erhöhten Tresen sitzen nebeneinander sieben Redakteure vor großen Bildschirmen. Von hier aus werden die Seite eins, die Sachsenseite und alle digitalen Produkte produziert. Die Stimmung ist gelassen, Stichworte zu Artikeln fliegen umher. Man habe sich viele Modelle angesehen, auch in Übersee und Norwegen beim „Aftonbladet", und sich dann für eine Coffeeshop-Atmosphäre entschieden. Denn im Coffeeshop, ob in Wien, Berlin oder Leipzig, säßen die verschiedensten Menschen zusammen, läsen in Zeitungen, auf Tablets, am Smartphone. Nur eins fehlt: die Kaffeemaschine. Wegen der Lautstärke des Mahlwerks habe man entschieden, beim Filterkaffee zu bleiben.
Vetterick macht sich keine Illusionen, man steht in puncto digitaler Entwicklung am Anfang. Erst seit letztem Winter steht der Verkauf digitaler Abonnements ganz oben auf der Agenda. Mit knapp viertausend Digitalkunden ist der Start gemacht.
In der Mediennutzung hat man festgestellt, dass es fast keine Überschneidung zwischen Print- und Digital-Lesern gibt. Die Print-Abonnements sind rückläufig. Die Entwicklung des Digitalen ist alternativlos, aber nicht so leicht umzusetzen. Das Selbstverständnis der Redaktion und der Arbeitsablauf lassen sich aufs Netz nicht eins zu eins übertragen, sind aber notwendig für den Zeitungsbetrieb, der den Kern der „Sächsischen Zeitung" ausmacht. Um diesen zu erhalten und als Basis für die Entwicklung des Digitalen zu nutzen, braucht es Zeit, Einsatz, Impulse.
Uwe Vetterick formuliert ein im Journalismus eher ungewöhnliches Selbstverständnis, welches wohl auch von seiner Zeit beim Springer-Verlag geprägt ist: Die Zeitung, sagt er, sei zuallererst ein Produkt, für das die Leser bezahlen. Der bessere Journalismus sei derjenige, für den Menschen zahlen wollen. Da man annehmen könne, dass die in der Vergangenheit gewonnenen Kunden aus guten Gründen treu sind, bestehe auch kein Rechtfertigungszwang für Bisheriges. Das Produkt gedruckte Zeitung funktioniere.
Die Zeitung als Gesamtobjekt wirkt ganz anders als einzelne digital konsumierte Inhalte. Die Leseerfahrung ist orchestrierter, Leichtes wird mit Schwerem kombiniert. Online bekämen Leser so etwas wie eine folgenreiche Überdosis, viele wendeten sich dadurch von den Nachrichten gar ganz ab oder hätten eine dramatisierte Wirklichkeitswahrnehmung, sagt Vetterick. Das sei auch ein Problem der Zeitungen, nicht nur der Leser: „Würden Sie für etwas bezahlen, dass Sie jeden Tag unglücklich zurücklässt?"
Die Antwort sei jedoch kein billiger Wohlfühljournalismus. Leser sehnten sich „zutiefst nach konstruktiven Lösungen". Daher müsse man sich als Journalist darauf konzentrieren, Probleme zu erkennen und Lösungen anzuregen, an Machbarkeit orientiert und nicht utopisch. Das sei vielleicht aufwendiger, doch dafür bekomme man auch zahlende Leser, sogar online.
Resultat der bisherigen Gratiskultur im Netz sei, dass kaum erfolgreiche Produktansätze für bezahlten Online-Journalismus existierten. Vetterick stellt das Thema vornan. Im Haus scheint man gewillt, den Weg mitzugehen. Die Stimmung ist gut, Redakteure berichten von angenehmem Arbeitsklima, zumindest im Newsroom, wo entschieden wird, was mit welchem Inhalt passiert, was noch verändert werden muss und was im Blatt, online oder hinter der Bezahlschranke landet.
Dabei kann die Redaktion auf präzise Daten zurückgreifen. Bei der „Sächsischen" wird alles gemessen, aber behutsam. Das Klischee sagt, bei der gedruckten Zeitung werde rein qualitativ geurteilt, während Online zur kontextbefreiten Optimierungsmaschine verkomme.
Bei der „Sächsischen" glaubt man sich einen Schritt weiter: Es wird alles gemessen - auch die gedruckte Zeitung. Das Stichwort lautet „Lesewert", für dieses wurde ein verlagseigenes Start-up gegründet: Jeden Tag lesen Hunderte Abonnenten mit einem digitalen Stift die gedruckte Zeitung. Jeder einzelne markiert in jedem gelesenen Artikel jene Stelle, an der er zu lesen aufgehört hat. Die Daten landen nahezu in Echtzeit in der Redaktion. Oft zeigt sich schnell ein Muster, wenn etwa mehrere Leser an einer Formulierung hängenbleiben, oder Artikel gar nicht erst gelesen werden. Die Redaktion kann nun andere Formulierungen, Überschriften, Darstellungen ausprobieren. Das Leseverhalten lässt sich fürs ganze Blatt ermitteln.
Um nicht der reinen Zählerei auf den Leim zu gehen, wird jeder Testleser vorab kontextualisiert, die Erwartungshaltung wird abgefragt. Was wünschen sich Leser von ihrer Zeitung? Dabei kommt häufig etwas ganz anderes heraus, als sich im tatsächlichen Leseverhalten offenbart. Viele wünschen sich etwa, dass ihre Zeitung ein Feuilleton hat, lesen aber oft nur die Überschriften. Inzwischen weiß man, wieso das so ist. Zum Lesen gehört ein Gefühl von - bürgerlicher - Zugehörigkeit. Man will, dass in der Zeitung über Kultur geschrieben wird und zwar richtig.
Der Musikkritiker, der, eben noch beseelt von gutem Expertenfeedback, plötzlich betrübt um seinen Job fürchte, könne also beruhigt sein, sagt Chefredakteur Vetterick. Neun Prozent Lesequote seien für Klassik ein sehr guter Wert, nicht ein sehr schlechter. Solche Daten seien hilfreich, um digitale Ergebnisse einzuordnen. In der Mischung aus Messung und qualitativer Analyse könne man die Verzerrungen digitaler Metriken beleuchten. Ein Klick sei weniger wichtig als ein wiederkehrender, zahlungsbereiter Leser.
Den Korridor zu Uwe Vettericks Büro mit den durchsichtigen Wänden säumen penibel gerahmte Auszeichnungen, es sieht aus wie bei einer Werbeagentur. Auch sein Zimmer ist eine dekorative Affäre, bunt, modern, viel Glas, lauter leere Oberflächen und Sitz- oder Stehgelegenheiten. Alles ist zum Besprechen, aber nicht zum Verweilen angelegt.
Vetterick hält hier die tägliche Konferenz ab, aber nicht in großer Runde, sondern mit seinem Vize Heinrich M. Löbbers und den Ressortleitern aus Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, der Stadt Dresden und den lokalen Ressortchefs, welche die Regionen Sachsens betreuen. Sie stellen Themen vor, zu dritt wird entschieden, wer was wie angeht. Entscheidungen werden digital festgehalten, pro Artikel eine Karteikarte beim Projektmanagement-Tool Trello. Der große Bildschirm ist also keine Angeberei. Hinter Vettericks Schreibtisch hängen zwei Auszeichnungen als „Journalist des Jahres". Auf der einzigen blickdichten Wand steht in weißer Serife: „Suche das Beste".
Dieses „Beste" zu finden ist für Vetterick in seinen nunmehr zwölf Jahren als Chefredakteur zu einer Art Dogma geworden. Auch das Motto der Zeitung spielt darauf an: „Wir suchen das Beste über Sachsen und die Menschen, die hier zu Hause sind." Vetterick unterstreicht diesen Satz, er kann daraus fast alles ableiten: die Rolle des Journalisten, die Funktion der Zeitung und das Selbstbild, das die „Sächsische" hat. Im Wort „Suche" steckt bereits das nicht auftrumpfende Berufsverständnis. Die Suche ist Pflicht und Privileg des Journalisten, der von seiner Leserschaft für die Recherche bezahlt wird. Das beinhalte nicht nur, ein Problem zu erkennen, sondern auch, nach Lösungen zu suchen.
Um sein Argument zu untermauern, ruft Vetterick einen Klassiker des Lokaljournalismus auf: Vor einer Schule kommt es allmorgendlich zum Stau durch Elterntaxis. Das Problem ist bekannt, journalistischer Mehrwert aber entsteht erst dann, wenn die Berichterstattung weiterhilft. Bei der „Sächsischen" gibt es dafür drei Optionen. Entweder hat eine andere Kommune ein solches Problem schon zufriedenstellend gelöst, dann stelle man diese Lösung vor. Oder aber man suche einen Experten und bitte um Rat. Ist beides nicht gegeben, sei der Einfallsreichtum des Journalisten selbst gefragt. Journalist und Zeitung werden so zum Impulsgeber. Nähe zur Leserschaft entsteht ebenfalls.
So lässt sich auch das Problem einer negativen Realitätswahrnehmung adressieren. Daran scheitere in Sachsen viel, sagt Vetterick. Es gebe einige, die gut schimpfen könnten, und wenige, die sich um Lösungen kümmerten. Das Ehrenamt sei chronisch unterbesetzt, zwischenmenschlicher Zusammenhalt fehle. Viele, die Schaffenslust und Gemeinschaftssinn hätten, seien fortgegangen und hätten die Miesepeter zurückgelassen. Das verändere sich langsam, doch sei dies ein Hauptgrund für den Zuspruch für Pegida und AfD. Auffällig sei, dass religiöse Menschen am wenigsten AfD wählten. Den Menschen fehle „Glaube, Liebe, Hoffnung", sagt Vetterick, der aus Greifswald stammt und eigentlich Theologie studieren wollte. Er kam zum „Greifswalder Tageblatt", später zur „Bild"-Zeitung, machte eine kurze Stippvisite beim „Tages-Anzeiger" in Zürich, bevor er im Februar 2007 die SZ übernahm.
1991 war die „Sächsische Zeitung" privatisiert worden. Davor hatte sie seit 1946 als „Organ der Bezirksleitung Dresden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" fungiert. Das Bewusstsein für die neu gewonnene Freiheit ist in der Redaktion bis heute verankert. Die Hierarchien sind flach, die Unabhängigkeit ist heilig. Von den beiden großen Gesellschaftern verspüre man keine inhaltliche Einflussnahme. Seit 1991 hält die SPD aufgrund erfolgreich ausgefochtener Restitutionsansprüche über ihre Medienholding DDVG vierzig Prozent der Verlagsanteile. Vor 1946 war die „Sächsische Zeitung" zur Hälfte noch die „Volksstimme" der SPD gewesen. Die anderen sechzig Prozent gehören Gruner + Jahr.
Chefredakteur Vetterick weiß selbstverständlich nur Gutes über die verlegerische Zusammenarbeit zu berichten. Zu einem anderen Zeitpunkt im Gespräch, als es um die Verdrossenheit in Sachsen geht, bemängelt er aber die Fremdbestimmtheit im Osten. Viele leitende Kulturpositionen seien mit Westdeutschen besetzt. Die großen Parteien würden primär aus den alten Bundesländern gesteuert, obwohl Lokalpolitiker um Stimmen werben. Das Verhältnis sei ein wenig wie gegenüber einer Kolonialmacht. Den Leuten gehe es gut, gemessen an Arbeitslosenquoten und Steuereinnahmen, aber „Geld wärmt nicht". Sachsen hat die geringste Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland, es gibt viel Geld für Kitas und weitere Infrastruktur, doch viele Menschen seien „herzensbitter", sagt der Greifswalder.
Dass sich die AfD großer Popularität erfreut, wundert Vetterick nicht. Gemeinsam mit der Universität Leipzig hat die SZ tausend AfD-Wähler und tausend Nicht-AfD-Wähler befragt und festgestellt, alle sähen dieselben Probleme, aber nur die eine Hälfte traue der AfD zu, diese zu lösen. Trotz aller Politisierung, sagt Vetterick, müsse man weiter streng journalistisch arbeiten. Das bedeute, Menschen mit Machtanspruch persönlich und inhaltlich zu konfrontieren, aber auch, differenziert mit Sympathisanten umzugehen. Man befasse sich ausführlich mit den Lebensläufen und Strafakten der oft unterqualifizierten Amtsanwärter der AfD, aber eben auch mit den Anliegen der Wähler.
Inwieweit die Leser der „Sächsischen Zeitung" potentielle AfD-Wähler sind, will Vetterick nicht mutmaßen. Er verweist aber darauf, dass bei fünfundzwanzig Prozent pro AfD noch fünfundsiebzig Prozent der Wähler in Sachsen übrig blieben.