1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Auch Untergewichtige leiden oft unter Stigmatisierung

Wer Gewicht abbauen will, muss das mit Sinn und Verstand tun - aber er sollte nicht an Kalorien sparen. Foto: Getty Images

Essen. Die Gründe für Untergewicht sind vielfältig. Dahinter können Erkrankungen stecken. Doch Betroffene werden häufig mit Vorurteilen konfrontiert.

„Mensch iss doch mal was". Sehr direkt werden dünne Menschen auf ihre Erscheinung angesprochen. Was viele sich bei Übergewichtigen oft nur hinter vorgehaltener Hand trauen, wird hier unverblümt ausgesprochen. „Untergewichtige leiden häufig unter der Stigmatisierung durch die Umwelt", sagt auch Dr. Matthias Riedl, Ernährungsmediziner und Vorstandsmitglied vom Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner. Dabei sind längst nicht alle Menschen mit geringem Gewicht essgestört. Durch aktuelle Debatten um Magermodels und die steigende Zahl essgestörter junger Frauen scheint dies jedoch vielen Menschen die naheliegendste Ursache zu sein. Zudem habe sich das Normalbefinden der Bevölkerung angesichts der adipösen Gesellschaft stark verändert, so Riedl. „Häufig werden normalgewichtige Kinder von Müttern als untergewichtig eingestuft und dicke Kinder nicht als solche erkannt."

Ursachen für Untergewicht

Tatsächlich sind die Gründe für Untergewicht sehr vielfältig. Erkrankungen wie chronische Infektionen, Stoffwechselerkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Schilddrüsenfunktionsstörungen und Essstörungen wie Magersucht und Bulimie können zu Gewichtsverlust führen.

„Manche Menschen mit Unverträglichkeiten trauen sich nicht mehr richtig zu essen, aus Angst vor Beschwerden", weiß die Ernährungswissenschaftlerin Karin Landsberg. Hier ist das Problem, dass viele Betroffene erst spät herausfinden, welche Unverträglichkeit vorliegt - denn die Zuordnung von Beschwerden und Lebensmitteln ist nicht immer einfach. „Wenn ein guter Ernährungsplan aufgestellt wird, klappt die Gewichtszunahme dann aber meist problemlos", sagt Landsberg.

Der bekannte Body-Mass-Index (BMI) besagt, dass unterhalb eines BMI von 18,5 ein Untergewicht vorliegt. „Bei schweren Erkrankungen verlieren solche Menschen rasch an Gewicht und wichtiger Muskelmasse", sagt Matthias Riedl. Bei einer Grippe würden dann schon mal zwei bis drei Kilogramm Muskelmasse verloren gehen. Gerade bei Senioren ist starkes Untergewicht ein Problem, das schwerwiegende Konsequenzen mit sich bringen kann. „Die Menschen werden teils schneller pflegebedürftig und brauchen viel länger für eine Regeneration", so Riedl.

Werte ermitteln

Hinter Untergewicht muss aber keine Erkrankung stecken. Es ist nicht immer mit einer Unterernährung und Mangelerscheinungen gleichzusetzen. Es gibt einfach Menschen, die rechnerisch einen geringen BMI erreichen, aber gesund sind. „Das ist oft veranlagungsbedingt. Diese Menschen haben eine geringe Fettspeicherneigung und einen geringen Fettspeicher", sagt Matthias Riedl. Häufig sind die Muskeln unter der Haut deutlich zu sehen, der gesamte Körperbau ist schlank, die Knochen zart - dann würden diese Menschen schnell untergewichtig erscheinen. „Grundsätzlich ist der BMI nur eingeschränkt zu verwenden - besser ist eine BIA Messung, die genau über Muskulatur und Reserven Auskunft gibt", sagt Matthias Riedl. BIA steht für Bioelektrische Impedanz Analyse. Sie misst den elektrischen Widerstand des Körpers und kann durch die Widerstände der Gewebe im Körper in Wasser- und Fettmasse unterteilen. Ein Alarmzeichen ist die so genannte Sarkopenie - der starke Abbau von Muskelmasse.

Viele untergewichtige Menschen leiden darunter und wollen zunehmen, schaffen es aber nicht. Wenn eine Grunderkrankung nicht ursächlich behandelt werden kann, geht es darum, mit einer individuellen Ernährungsumstellung und gezieltem Sport zuzulegen. „Allgemeine Diätpläne werden eigentlich gar nicht mehr angewendet", sagt Ernährungswissenschaftlerin Karin Landsberg. Wichtiger sei eine zugeschnittene Empfehlung, die jeder für sich testen muss. In den meisten Fällen wird geraten, viele Zwischenmahlzeiten einzulegen, sie gut anzureichern und Fett beizumengen.

„Bei Frauen ist häufig ein Eiweißmangel vorhanden, der die Muskulatur belastet", sagt Matthias Riedl. Wichtig sei zudem Kraftsport, der die Körperkonturen stärkt. Ausdauersport wirke in hohem Maße eher auszehrend und sollte daher nicht übertrieben werden. „Eine moderate Bewegung tut aber gut, weil sie den Appetit auch anregt", sagt Karin Landsberg.

Ernährungstipps

Das oberste Ziel ist es, die Kalorienzufuhr zu erhöhen - ohne dass dabei der Spaß am Essen verloren geht. Experten empfehlen, die Mahlzeiten mit vielen Zwischenmahlzeiten aufzustocken. Wenn ein Mittagessen mal zeitlich nicht passt, kann zum Beispiel ein Milchshake, angereichert mit Obst und Traubenzucker sowie Sahne, Nüssen und Haferflocken, für die Kalorienzufuhr sorgen. „Traubenzucker eignet sich sehr gut zum Süßen", sagt Karin Landsberg. Glukose hat eine nicht so hohe Süßkraft wie unser Haushaltszucker, der aus Fruchtzucker und Glukose besteht. Deswegen könne man hier schon mal die doppelte Menge nehmen, ohne dass es zu süß schmecke.

Man muss gar nicht so sehr seine Lieblingsgerichte umstellen. Vielmehr geht es um das Anreichern von Gerichten. Gesunde pflanzliche Fette wie Leinöl oder Rapsöl können den Kaloriengehalt warmer Mahlzeiten aber auch von Salaten und Antipasti erhöhen. Nüsse, Kerne und Samen liefern insgesamt „gute" Kalorien. Joghurt kann zum Beispiel mit Crème fraîche angereichert werden. Neben Traubenzucker kann auch Maltodextrin in Speisen oder Getränke beigemengt werden.

Milchprodukte sollten einen hohen Fettanteil haben. Außerdem sind nährstoffreiche Getränke wie Kakao, Malzbier und Fruchtsäfte gute Kalorienlieferanten. Betroffene, die auch durch eine Ernährungsumstellung nicht zunehmen, können zudem spezielle „Astronautennahrung" trinken.

Janna Cornelißen

Zum Original