In der Reihe "Was wären wir ohne euch" stellen wir Menschen vor, die erstaunlichen Berufen nachgehen. Jessica Noeller hat zusammen mit Marleen Schenk die Eventagentur Unruhestand Events gegründet, die sie zusammen leiten. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 45/2022.
ZEIT ONLINE: Mit Ihrer Agentur Unruhestand Events haben Sie sich auf Konzerte für Leute über 60 spezialisiert, besonders in Pflegeeinrichtungen. Was gefällt dieser Zielgruppe?
Jessica Noeller: Letztens war ich auf einem Konzert von Billy Idol. Da war der Großteil des Publikums Ü60; die sind total abgegangen, in Nietenklamotten und Lederboots. Viele Menschen der Jahrgänge 1950 bis 1965 haben in ihrer Jugend die Rolling Stones oder AC/DC gehört - absolut keine Schunkelmusik. Oft bleibt der Musikgeschmack im Alter. Ältere hören nicht zwangsläufig gern Schlager. Diese Vorstellung ist verbreitet, aber Quatsch.
ZEIT ONLINE: Also organisieren Sie Rockkonzerte im Seniorenheim?
Noeller: Meistens ist es eher Swing, Country oder Blues - viele Einrichtungen setzen auf "allgemein Gefälliges", auch weil in der Generation 80 plus viele nicht so rockaffin sind - aber alles ist möglich. Wir hatten auch schon einen Rocknachmittag, bei dem ein ganzer Innenhof zu Joe Cockers Unchain My Heart getanzt hat. Wir wollen den Leuten echte Konzerterlebnisse bieten - mit Lichttechnik, Ticket und Aufbrezeln. Vor drei Jahren habe ich in der tagesschau gesehen, dass ein Pflegeheim mit einem Bus zum Metalfestival nach Wacken gefahren ist. Super! Im besten Fall sollte so was gar keine Nachricht wert sein, sondern einfach normal. Es kann nicht sein, dass man sagt: Wer alt ist, der braucht das alles nicht mehr, der kann basteln und bekommt einmal im Jahr den Alleinunterhalter vorgesetzt, der Schlager trällert.
ZEIT ONLINE: In vielen Pflegeeinrichtungen sieht es aber genau so aus. Warum ist das so?
Noeller: Die Budgets sind knapp, die Pflegekräfte überlastet. Ich habe das selbst erlebt, als ich während des Lockdowns in einem Heim ausgeholfen habe. Wie sollen die Mitarbeiter in ihrem stressigen Alltag noch Künstler anfragen, sich mit der Gema beschäftigen und so weiter? Natürlich greift man da in die Schublade und ruft den Alleinunterhalter an, der immer kommt. Genau deshalb haben Marleen Schenk und ich 2019 unsere Agentur gegründet. Ich bin Veranstaltungsfachwirtin, Marleen ist Veranstaltungskauffrau. Für uns ist es ein Leichtes, ein Event zu planen.
ZEIT ONLINE: Sind das hauptsächlich Konzerte oder auch anderes?
Noeller: Bei der Gründung haben wir uns noch viel mehr überlegt: Escape-Games, Burger-Tastings, Casino-Nights. Aber vieles ging bisher wegen Corona nicht. In den letzten zwei Jahren haben wir hauptsächlich Balkonkonzerte organisiert, die sind coronakonform.
ZEIT ONLINE: Ist es anders, Veranstaltungen für über 60-Jährige zu organisieren als für andere Zielgruppen?
Noeller: Barrierefreiheit ist besonders wichtig. Wenn wir einen Ausflug planen, braucht es ein Transportmittel, in dem mehrere Rollatoren verstaut werden können. Was auch ein Thema ist, ist Geld: Anders als Firmen, für die man schicke Galas organisiert, haben die Einrichtungen, die uns buchen, oft kein großes Budget. Deshalb besprechen wir mit ihnen auch Fördermöglichkeiten, mit denen sie ihr Budget aufstocken können. Wir verstehen uns als soziale Eventagentur. Vorher habe ich Firmenevents organisiert, das hat mich nicht erfüllt. Jetzt habe ich das Gefühl, mit meiner Arbeit viel mehr zu bewirken.
ZEIT ONLINE: Was bewirken Sie?
Noeller: Wir bringen Abwechslung in den Alltag der Menschen. Das Schönste ist oft die Vorfreude. Schon Wochen vor den Konzerten reden die Leute darüber: "Ob er wohl auch dieses oder jenes Lied spielt?" Musik hat außerdem nachweislich positive Auswirkungen, zum Beispiel auf Demenzerkrankte, dazu gibt es Studien. Immer wieder kommt es vor, dass wir besonders schöne, berührende Momente erleben oder mir Pflegekräfte und Künstler davon erzählen.
ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?
Noeller: Einmal hat eine schwer demente Frau mehrere Beatles-Songs auswendig mitgesungen. Sie wusste ihren eigenen Namen nicht mehr, aber die Liedtexte waren noch da. Ein anderes Mal tanzte eine Frau mit dem Rollator im Kreis und erzählte später, das sei das Lied von ihr und ihrem verstorbenen Mann gewesen. Vorher hatte sie nie über ihn gesprochen.
ZEIT ONLINE: Ältere Menschen gelten manchmal als knurrig. Hat sich schon mal jemand über ein Konzert beschwert?
Noeller: Die Leute im Publikum nicht, aber in der Nachbarschaft. Wir hatten während der Lockdowns ein paarmal Besuch von der Polizei. Da haben Anwohner angerufen: "Die feiern da eine illegale Party im Seniorenheim!"
Interview: Janina Martens