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Schwedische Fassaden

Unscheinbar steht ein eierschalenfarbener 60er Jahre Block gegenüber des Bahnhofs einer Schwedischen 3000 Seelen Gemeinde. Regentropfen perlen erst an der makellosen Hausfassade ab, um sich dann in Pfützen auf dem Gehweg zu sammeln, wo benutzte Snus Paketchen sich langsam aufzulösen beginnen. Als die Kameraperspektive wechselt, sieht der Zuschauer zwei Frauen im Schlafzimmer einer Wohnung des Hauses stehen, die die perfekte Sicht auf das neu beklebte Haltestellenschild freigibt. Doch die Frauen blicken nicht aus dem Fenster, sondern an die Decke. Dort hängt der Haken, an dem Magnus Persson den Strick befestigt hat, mit dem er sich das Leben nahm. Nach seinem Tod lag Magnus zwei Jahre in seiner Wohnung, ohne dass Familie, Freunde, oder die Menschen am Bahnhof es bemerkten. Die Frauen, die jetzt in seinem Schlafzimmer stehen, gehören zu einer Agentur, die sich darum bemüht, Angehörige von Verstorbenen ausfindig zu machen. Ihr Telefon steht selten still. Der Dokumentarfilm “A Swedish Theory of Love” versucht zu erklären warum.

Befragt nach Ihren Ansichten zu Religiosität, Autorität innerhalb der Familie, Toleranz bezüglich verschiedenster Formen sexueller Orientierung und der Wichtigkeit traditioneller Männer- und Frauenrollen, liefern die Schweden die liberalsten Antworten in ganz Europa. So schweben die skandinavischen Staaten über dem Festland südlich von Trelleborg auf einem Thron aus Ästhetik und Fortschritt. Und während von unten bestaunt und schön gefunden wird, wächst zwischen den Bewohnern des Landes die Entfernung.

Die Ära des Schwedischen Wohlfahrtsstaates Folkhemmet hat die Grundwerte der Gleichheit, vor allem aber der Autonomie und der Eigenverantwortung fest in den Köpfen verankert. Schon Kinder sollen zu Wesen heranwachsen, die zumindest von ihren Eltern finanziell so unabhängig sind wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Der Staat übernimmt Ausbildungsfinanzierung und Altenpflege und somit die Rolle eines fürsorglichen Versorgers, der Menschen davor bewahren will, Beziehungen mit anderen aus Abhängigkeit einzugehen oder aufrecht zu erhalten.

Die Hälfte aller Schweden lebt mittlerweile allein, seit diesem Jahr dürfen Singlefrauen nun ganz legal den Vater ihres zukünftigen Kindes im Katalog aussuchen, bis zu sechs Befruchtungsversuche übernehmen die Krankenkassen. Und während einige das neue Gesetz als weitere Manifestation schwedischer Progessivität zelebrieren, beginnen andere das Bild einer Gesellschaft zu malen, die über ihren Drang nach persönlicher Unabhängigkeit die Fähigkeit zur Sozialisation verloren habe.

Ich selbst sah die Wohnung Perssons in dem gemütlichen Sessel eines Alternativkinos der Stadt Uppsala. Ernüchtert lief ich später durch die Straßen, war es doch das erste Mal, dass die Fassade der Bewohner des Landes, die ich bis dahin uneingeschränkt beneidet hatte, Risse bekam. Ich blieb vor dem eindruckvollsten Haus meiner Straße stehen. Wie jeden Abend beleuchteten Scheinwerfer die weißen Säulen des Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert, hinter dessen Fenster die Menschen im Pub heiter gestikulierten. Aus dem Ballsaal im ersten Stock drang der Gesang von Menschen im Chor. Mit den 13 Nations haben sich die Studenten Uppsalas eigenmächtig eine exklusive Parallelgesellschaft geschaffen, in der die Veranstaltungsangebote vielseitig, die Förderungen großzügig und der sonst so streng regulierte Alkohol günstig ist. Die Jahrhunderte alte Tradition scheint hier eine Lebenswirklichkeit prä Folkhemmet von den Entwicklungen der Außenwelt isoliert und so ein System konserviert zu haben, dass im Gegensatz zum restlichen Schweden, ohne Gegenseitigkeit und Miteinander nicht überlebensfähig wäre.

Uppsala ist die beliebteste Studentenstadt Schwedens und zeigt vielleicht so, dass hinter dem schwedischen Stolz auf die eigene Unabhängigkeit doch auch der Wunsch steht, sich in einer Gemeinschaft aufgehoben zu wissen. Kein Schwede möchte Magnus Persson werden.

 

 Dieser Text ist veröffentlicht im Freiburger Kulturmagazin 14 Magazin, Ausgabe 8