Jana Luck

Reporterin Gesellschaft, Hamburg

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"Maniac": Träume im Labor

"Realität ist heilbar", steht auf einem Plakat, mit dem Netflix für seine neue Miniserie wirbt. Realität ist also ein Problem, ein Hindernis - aber ein überwindbares: So lautet das Motto von Maniac. Inszeniert hat die zehnteilige Reihe der Regisseur Cary Fukunaga - gerade wurde vermeldet, dass er den nächsten Bond-Film übernehmen wird. Auf Netflix aber durfte Fukunaga sich vorher noch einmal als Künstler und Visionär ausleben. In Maniac erfahren Annie (Emma Stone) und Owen (Jonah Hill) von einem neuen Medikament, das getestet wird: Die Pillen sollen die Menschheit von allen psychischen Leiden befreien, egal ob Schizophrenie und Verfolgungswahn (im Fall von Owen) oder Traumata und Depressionen (im Fall von Annie). Die beiden erklären sich bereit, an einer Studie teilzunehmen; ihre Dämonen sollen sie in pilleninduzierten Träumen besiegen, die sie gemeinsam durchleben. So wie Fukunagas Stil über die zehn Folgen von einem Genre ins andere wechselt, so wechseln auch die beiden Gestalt und Geschichte, sind mal Gangsterduo, mal White-Trash-Pärchen auf Long Island; Owen ermittelt verdeckt im Schurkenmilieu und verwandelt sich einmal in einen Falken, um Annie aus einer Herr der Ringe- Satire zu retten.

Und wie sieht die Realität aus? Annie und Owen leben in einer Stadt, die New York sein könnte. Ein New York der Siebzigerjahre, mit riesigen Leuchtschriften, die bekannte Marken von den Hochhauswänden blinken lassen . Aber die Menschen tragen Kleidung, mit der sie in einer westlichen Großstadt von heute nicht auffallen würden. Ein Handy besitzt niemand, nicht einmal schnurlose Telefone gibt es. Auf den Straßen fahren kleine Roboter, die Bürgersteige putzen, aber sie sehen nicht futuristisch aus, sondern bereits veraltet. Die Computer scheinen aus den Achtziger- oder Neunzigerjahren zu stammen, mit grünen Schriften und plumpen Plastikgehäusen. In diese Welt versetzt uns Fukunaga, irgendwann zwischen 1970 und 2020. Ist sie real? Oder ist auch sie nur eine Pillenhalluzination? Und spielt das überhaupt eine Rolle? Nicht die alte philosophische Frage nach Wirklichkeit und Täuschung fasziniert an Maniac, sondern die neuen Kunstgriffe, mit denen Fukunaga uns um eine Antwort bringt. Wenn uns nichts bekannt wäre in dieser seltsamen Welt von Maniac, dann wäre wenigstens das ein Punkt, an dem wir uns orientieren könnten: das ganz Fremde. Aber die Serie selbst funktioniert nach der Logik eines Traums, in dem man die Orte und Menschen erkennt, während man gleichzeitig weiß, dass sie anders aussehen müssten: Man trifft die Schwester, doch sie steckt im Körper eines Fremden. Man erkennt seine Stadt, obwohl ihre Straßenzüge abweichen. Fukunaga verschiebt die Wirklichkeiten gerade so weit, dass der Zuschauer kurz wähnt, sich zurechtzufinden. Bis er plötzlich auf das Unbekannte stößt, das ihn umso mehr aus der Bahn wirft. Verunsicherung heißt das Gefühl, das ihn noch lange nach der letzten Folge dieser Serie begleiten wird.

"Maniac" ist auf Netflix zu sehen.

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