Jana Hauschild

freiberufliche Journalistin, Berlin

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Artikel

Patientenrechte in der Psychiatrie

Belastende Erfahrungen

Mit Mitte 30 hört Andreas Jung plötzlich Stimmen. Es ist eine stressige, ja belastende Zeit für ihn. Als Forscher dokumentiert er damals an der Universität Marburg Biografien von Menschen, die im Zweiten Welt­krieg ins Exil gingen. Die Inhalte lassen ihn auch nach der Arbeit nicht los. Als sich seine lang­jährige Freundin von ihm trennt und zeitgleich sein Mitbewohner und guter Freund für einen neuen Job in eine andere Stadt ziehen muss, ist Jung plötzlich allein und rutscht immer tiefer in eine Psychose, einen Zustand mit Wahn­gedanken.

Die eigenen Eltern lassen ihn einweisen

Er hat das beklemmende Gefühl, in einer „geklonten Welt" zu leben. Er zieht sich verängs­tigt zurück, pflegt und versorgt sich nicht mehr ausreichend und reißt - im Wahn - über­all in der Stadt Werbeplakate ab. In eine Klinik will er nicht. Eines Tages holen ihn Polizisten aus der Universität ab und bringen ihn gegen seinen Willen in eine Psychiatrie. Auf Wunsch seiner Eltern hatte das Gesund­heits­amt bei Gericht einen Einweisungs­beschluss erwirkt.

Richter prüft Einweisungs­gründe

Zwangs­einweisungen sind in Deutsch­land zulässig. Menschen können gegen ihren Willen in eine Psychiatrie einge­wiesen und fest­gehalten werden - allerdings nur nach richterlichem Beschluss. Pro Jahr verzeichnen die Psychiatrien bundes­weit etwa 800 000 stationäre Behand­lungen, davon etwa 130 000 im Rahmen einer „Unterbringung". So werden Zwangs­einweisungen auch genannt. Für jede muss ein Richter prüfen, ob sie gerecht­fertigt ist. Das ist sie, wenn eine Person psychisch erkrankt ist und durch ihr Verhalten sich selbst, andere oder die öffent­liche Sicherheit und Ordnung akut und erheblich gefährdet.

Medikamente oder Fixierung ans Bett

Auch in der Klinik kann es zu drastischen Situationen kommen, in denen Patienten ihr eigenes Wohl oder das anderer gefährden. Dann können Ärzte Zwangs­maßnahmen, wie eine Fixierung ans Bett, die Isolierung in einem leeren Raum oder die Zwangs­medikation, veranlassen. Aber: Nur geschulte Mitarbeiter dürfen diese umsetzen und Ärzte wie Pfleger müssen vorab alle alternativen Möglich­keiten ausgeschöpft haben, um Fixierung oder Isolierung zu vermeiden. Durch­aus üblich im Alltag sind Zwangs­maßnahmen in Pfle­geeinrichtungen. Dort sind im Schnitt sieben von zehn Bewohnern an Demenz erkrankt (siehe Interview Zwang in Pflegeheimen vermeiden).

Urteil von 2018 stärkt Patientenrechte

Im Juli 2018 hat das Bundes­verfassungs­gericht die Schwelle für Zwangs­maßnahmen deutlich erhöht (Az. 2 BvR 309/15; 2 BvR 502/16). Früher reichte für das Fixieren die Anweisung eines Arztes. Seit dem Urteil soll es nicht nur das letzte Mittel bei aggressivem Verhalten eines Patienten sein, es bedarf jetzt einer richterlichen Zustimmung, sobald das Fixieren länger als 30 Minuten dauert. Zugleich müssen Patienten dabei durch­gehend 1:1 betreut werden, etwa von einer Pfle­gekraft.

„Prüfen, ob es nicht auch anders geht"

Tilman Steinert, ärzt­licher Leiter des Zentrums für Psychiatrie Baden-Württem­berg und jahre­lang Forscher auf dem Gebiet der Zwangs­maßnahmen, berichtet: „In Gesprächen mit Kollegen merke ich bereits, dass nun viel kritischer geprüft wird, ob es nicht auch anders geht."

Umstrittene Maßnahmen

Auch Andreas Jung erinnert sich an Zwangs­maßnahmen: „Ich wurde immer wieder dazu gedrängt, Medikamente zu nehmen, habe mich lange gewehrt. Irgend­wann habe ich sie genommen und bin damit vielleicht einer Fixierung zuvorgekommen."Wie häufig in Deutsch­land Zwangs­maßnahmen zum Einsatz kommen, ist nicht bundes­weit erfasst. Nur in einzelnen Bundes­ländern müssen Kliniken den Einsatz solcher Mittel dokumentieren, etwa in Baden-Württem­berg. Dort gab es im Jahr 2016 rund 109 000 Behand­lungs­fälle in Psychiatrien, 7 321 Mal kamen Fixierung oder Isolierung zum Einsatz. 674 Unterge­brachten wurden gegen ihren Willen Medikamente verabreicht. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen Regionen und Kliniken.

„Eingriff in die Grund­rechte"

Zwangs­maßnahmen sind umstritten. Psychiater Steinert sagt: „Sie wirken nicht nur wie schwere Eingriffe ins eigene Leben. Sie sind es auch, sogar in die Grund­rechte von Menschen." Für manche Patienten können sie traumatisierend sein. Psychiater sind sich dessen heute viel mehr bewusst als früher. Die psychiatrische Versorgung hat sich mit den Jahr­zehnten stark verändert, die Perspektive der Patienten ist immer mehr ins Blick­feld gerückt. Etliche Gerichte und nicht zuletzt das Bundes­verfassungs­gericht haben über Jahre die Rechte von Patienten gestärkt.

Neue Leit­linie soll Zwang reduzieren

Im Alltag soll eine neue Leit­linie der Deutschen Gesell­schaft für Psychiatrie und Psycho­therapie helfen, die Zwangs­maßnahmen für aggressive Patienten zu reduzieren. Sie erschien zeitgleich mit dem Gerichts­urteil. Fachgesell­schaften sowie Verbände von Patienten und Angehörigen haben darin fest­gehalten, wie Zwangs­maßnahmen möglichst vermieden werden können und wie sie unter Wahrung der Menschen­würde umge­setzt werden können, wenn sie nötig sind.

Mitsprache von Patienten

Wichtigster Motor ist die Mitsprache von Patienten. Die Leit­linie empfiehlt Behand­lungs­ver­einbarungen (siehe Papiere für den Krisenfall). Darin sprechen Ärzte einer bestimmten Klinik und der Patient ab, wie er bei einem erneuten Aufenthalt dort behandelt werden soll. Jung hat eine solche Vereinbarung mit einem Klinikum in seiner Nähe abge­schlossen. Dort ist bekannt, welche Medikamente er im Krisenfall erhalten möchte. Experte Steinert, der federführend an der Leit­linie mitgewirkt hat, erklärt: „Ist die Situation erst eskaliert, bleibt zum Schutz anderer Patienten und des Personals oft nicht viel übrig als Zwangs­maßnahmen." Bei tätlichen Angriffen helfe Reden oft nicht mehr. „Aber es gibt viel, was im Vorfeld getan werden kann."

Deeskalations­training und offene Türen

So soll die Beziehung zwischen Patienten und Ärzten möglichst part­nerschaftlich sein, um Vertrauen und Zusammen­arbeit zu ermöglichen. Empfehlens­wert sind zudem Deeskalations­trainings für Ärzte und Pfleger sowie das Konzept der offenen Türen. Kliniken schließen dafür am Tag die Türen der geschlossenen Station auf, sodass Patienten mehr Bewegungs­freiheit haben und sich nicht weggeschlossen fühlen. Entspannungs­übungen, Bewegung, Beschäftigung, Rück­zugs­möglich­keiten und Gespräche mit Vertrauens­personen helfen. Das ergab eine aktuelle Umfrage der Universität Hamburg unter Patienten, die Zwangs­maßnahmen und Alternativen erlebt hatten.

Patienten unterstützen

Andreas Jung empfiehlt Behand­lungs­ver­einbarungen auch anderen Psychiatrieerfahrenen. Vor zwei­einhalb Jahren hat er sich von dem Verein Ex-In (Experten durch Erfahrung in der Psychiatrie) zum Genesungs­begleiter ausbilden lassen. Das ist heute sein Beruf. Als jemand mit Psychiatrie­erfahrung steht er nun anderen Menschen regel­mäßig in der Anlauf­stelle in Marburg während ihrer stationären oder ambulanten Behand­lung beratend zur Seite. Mitt­lerweile bildet er auch selbst solche Unterstützer aus. Zwangs­maßnahmen sind in seiner Arbeit ein wichtiges Thema. „Die Scham, darüber zu sprechen, so etwas erlebt zu haben, ist sehr groß", sagt Jung. Er rät den Klienten, sich für ihre eigenen Rechte und Interessen in der Behand­lung selbst­bewusst einzusetzen.

Bewegung statt Fixierung

Eine Behand­lungs­ver­einbarung könne zum Beispiel verhindern, dass es zu einer Zwangs­maßnahme komme. „Psychiatrieerfahrene können darin mitbestimmen, welche Methoden sie für sich ausschließen und welche Alternativen ihnen statt­dessen helfen sollen." Mancher erlaube etwa eine Sedierung, also Ruhig­stellung mit Medikamenten, wenn das eine Fixierung verhindern kann. Andere bitten um Bewegung oder Entspannung, um Unruhe abzu­bauen.

Vereinbarungen können die Zeit der Unterbringung verkürzen

Vereinbarungen können die Zufriedenheit der Patienten mit der Behand­lung erhöhen, die Beziehung zum Therapeuten verbessern und sogar die Zeit der Unterbringung verkürzen. Das legt eine Über­sichts­arbeit des Deutschen Instituts für Menschen­rechte nahe. „Für eine Vereinbarung muss man für sich selbst aktiv werden und sich mit den Themen Einweisung und Zwangs­maßnahmen auseinander­setzen", sagt Jung. Es sei ein Weg, für sich Souveränität herzu­stellen.

Krisenpass fürs Portemonnaie

Weil eine solche Vereinbarung immer nur in dem Klinikum gilt, in dem sie ausgehandelt wurde, trägt Jung zusätzlich einen Krisenpass bei sich. „Der liegt wie ein Führer­schein in meinem Portemonnaie", sagt er. Darin hat er gemein­sam mit seinem Arzt notiert, welche Medikamente er nimmt, welche Mittel und Maßnahmen sich in früheren Krisen als hilf­reich erwiesen haben und, dass er diese bei Aufnahme wieder wünscht. Verbindlich ist der Pass nicht, aber dem Klinik­personal mitunter eine Hilfe.

Voll­macht für Vertrauens­person

Psychiater Steinert empfiehlt eine Vorsorgevoll­macht: „Darin können Sie jemanden benennen, dem Sie vertrauen und der in Ihrem Namen Entscheidungen für oder gegen Behand­lungen treffen darf, wenn Sie es nicht können." Manche Menschen mit Psychiatrie­erfahrung fertigen auch eine Patienten­verfügung an, einige schließen darin alle psychiatrischen Behand­lungen für sich aus. „Sich gar nicht behandeln zu lassen, wird aber in der eigenen Gesundung wenig bewegen", sagt Genesungs­begleiter Jung. Er hat fünf Klinik­aufenthalte hinter sich, vier davon unfreiwil­lig. Nach krisenreichen Jahren, zum Teil ohne Obdach, Job, Freunde und Perspektive, hat er, wie er sagt, sein Leben auf ein neues Gleis gestellt - und fährt mit voller Kraft voraus. Jahre­lange Psycho­therapie hat ihm geholfen. Dem 57-Jährigen geht es heute gut. Er hilft nun anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, wie er es einst war.

Mehr zum Thema lesen Sie im Special Pflege ohne Zwang, mehr zu Voll­machten, Verfügungen und Patientenrechten steht in unserem Vorsorge-Set.

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