Jana Hauschild

freiberufliche Journalistin, Berlin

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Amokläufe und Anschläge: Berichterstattung animiert Nachahmung

Nizza, München, Würzburg, Reutlingen, Ansbach: Die Ereignisse überschlagen sich in diesen Tagen. Terrorangriffe, Selbstmordanschläge, Amoklauf. Da liegt die Frage nahe, ob die Angriffe nicht zusammenhängen, sich die Täter vielleicht gegenseitig anstecken zu den Taten, einander nachahmen.

Suizid: Ein sehr umfassender Begriff für die Selbsttötung. Diese kann aktiv (durch Medikamente, Gift oder Selbstverletzung), aber auch passiv geschehen, etwa durch Nahrungsverweigerung bei schwerer Krankheit oder am Lebensende. In vielen Fällen ist der Suizid Folge einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung, zum Beispiel einer Depression oder bipolaren Störung. 15 Prozent der Menschen mit schweren Depressionen nehmen sich das Leben.

Werther-Effekt: Er wird auch Nachahmungs-Suizid genannt und beschreibt die Wirkung bestimmter dramatisierender Suiziddarstellungen auf suizidgefährdete Menschen. Vorbild war Goethes „Werther"-Roman mit seinen Folgen.

Erweiterter Suizid: Hier geht der Suizid mit der Tötung Dritter einher. Oft wirken durch die Krankheit verzerrte „altruistische Motive". Man will seine Kinder nicht allein zurücklassen oder den Partner „mitnehmen".

Amoklauf: Er wird zwar mitunter als Spezialfall eines „erweiterten Suizids" angesehen, ist aber nach heutigem Stand nicht das direkte Ergebnis einer psychischen Störung. Es braucht einen bestimmten Persönlichkeitstyp dafür. Auslöser sind etwa eine längere psychosoziale Entwurzelung, Kränkungen und Partnerschaftskonflikte. Die Täter sind meist junge, konfliktgehemmte Männer mit inneren Aggressionen. Die Tat wird oft lange geplant und vorbereitet.

Bei Suiziden ist solch ein Effekt seit Jahrhunderten als der sogenannte Werther-Effekt bekannt. Goethes Roman über den unglücklich verliebten Werther, der sich am Ende des Buches erschießt, fand viele Nachahmer. Die Zahl der jungen Männer, die sich aus enttäuschter Liebe mit einer Waffe niederstreckten, stieg nach der Veröffentlichung des Buches 1774 deutlich an.

Heute sind es vor allem Medienberichte, die solch eine Auswirkung haben können. In den zwei Wochen nach dem Tod des Torhüters Robert Enke, der sich mit dem Auto auf ein Bahngleis stellte und von einem Zug erfasst wurde, vervielfachte sich in Deutschland die Zahl der Suizide auf Bahngleisen von 30 auf 71. Ähnliches fanden Forscher auch nach den Suiziden von Rex Gildo, Hannelore Kohl und Kurt Cobain.

Geschichten im Kopf

Andere Fälle legen nahe, dass es auch bei Amokläufen und Selbstmordattentätern das lebensgefährliche Phänomen des Nachahmens gibt. Einige prominente Beispiele: Der Mann, der Rudi Dutschke, den Anführer der Studentenproteste von 1968, erschoss, gab in der Vernehmung an, der Anschlag auf Martin Luther King in den USA habe ihn auf den Mordgedanken gebracht. Der jugendliche Amokläufer an der Realschule in Emsdetten 2006 sah sich selbst in einer Reihe mit den Todesschützen an der Columbine High School sieben Jahre zuvor. Ein Däne eiferte den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo nur einen Monate später in seinem Land nach und griff in Kopenhagen einen Karikaturisten und einen jüdischen Bürger in einer Synagoge an.

Die Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle, wie jüngere Erhebungen zeigen. Im Jahre 2013 befragte der Kriminologe Ray Surette von der University of Central Florida in den USA anonym 574 junge Delinquenten in Haft, welche Bedeutung Presse, Filme und Literatur bei ihren Straftaten hatten. 22 Prozent berichteten, frühere Verbrechen nachgeahmt zu haben, jeder Fünfte schätzte Medien als Fundgrube für Informationen darüber, wie man eine Straftat begehen kann. Eine wichtige Quelle sind auch Filme und Serien.

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In der Psychologie gilt der Grundsatz: Gewalt in Medien macht noch keinen gewalttätigen Menschen. „Ein sozial gut eingebundener Jugendlicher mit gut ausgebildeten Problemlösestrukturen wird sich natürlich auch von der Wahrnehmung einer verantwortungslos gestalteten Berichterstattung über Amoktaten nicht dazu bringen lassen, eine solche Tat als Lösung seiner Probleme anzusehen", sagt der Kriminologe Frank Robertz, Professor an der Fachhochschule für Polizei des Landes Brandenburg.

Nachahmungstätern mangele es oft an stabilen Beziehungen, Fürsorge und dem Glauben, aus eigenen Stücken das persönliche Wohlergehen und den Lebenslauf positiv beeinflussen zu können. Sie seien zudem kaum in Vereinen, Schule oder anderen Gruppen verankert. Komme das Gefühl hinzu, gravierende Missstände erlitten zu haben und nicht auf herkömmlichen Weg in der Gesellschaft Anerkennung erringen zu können, bildeten sich mitunter schwerwiegende Gewaltfantasien aus, die schlimmstenfalls in einer realen Tat umgesetzt werden. Hierin ähneln sich Amokläufer und radikalisierte Attentäter stark. Letztere handeln jedoch nach einer Ideologie, denken, einem großen Ganzen zu dienen.

Presseberichte reichern diese Fantasien mit plastischen Details an. Und genau das sei gefährlich, meint die US-amerikanische Soziologin Zeynep Tufeki. Bereits 2012 erklärte sie in der US-Zeitung The Atlantic: „Aus vielen Forschungsbereichen wissen wir, sich einen kompletten Handlungsablauf vorstellen zu können, in dem man seine einzelnen Schritte und ihre Effekte visualisiert, ermöglicht es erst, diese Handlung auch umzusetzen. Wenn du also eine vollständige Geschichte in deinem Kopf hast, ist es wahrscheinlicher, dass du diese auch auslebst." Sie ermahnte die Medien deshalb, verantwortungsbewusster zu berichten.

Die Taten in Bayern, egal ob Amok oder Selbstmordattentat, könnten durchaus eine Art Werther-Effekt nach sich ziehen oder auch bereits solche Nachahmungstaten sein, sagt Nahlah Saimeh, Leiterin des Referats Forensische Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Die Täter erfahren in der Berichterstattung zum Teil international solch unglaubliche Aufmerksamkeit, wie sie es zu Lebzeiten nie erhalten haben." Sie wüssten vorher, dass nach ihrem Tode Obama, Merkel und andere hochrangige Politiker zu ihren Taten in den Medien Stellung nehmen, dass Journalisten nur ihretwegen Experten befragen würden. Für potenzielle Amokläufer und Terroristen seien das Vorbilder, sogenannte Anti-Helden, denen sie nacheifern möchten.

Die Verantwortung der Medien

Je mehr Details über Kleidung, Lebensumstände, Tagebucheinträge veröffentlicht werden, desto mehr können sich Jugendliche oder junge Erwachsene, die vom Leben enttäuscht sind, mit ihnen identifizieren. „Die Medien sind in einer schwierigen Situation. Zu viel Aufmerksamkeit für den Täter und die Tat begünstigt Nachahmer. Zugleich ist klar, dass über die Ereignisse berichtet werden muss", sagt die forensische Psychiaterin Saimeh. Sie empfiehlt der Presse deshalb, die Hinwendung zum individuellen Täter minimal zu halten.

Kriminologe Robertz hat gemeinsam mit einem Kollegen bereits 2007 Richtlinien für die Berichterstattung über Gewaltdelikte herausgegeben, die der Deutsche Presserat auch veröffentlichte. Sie lauten: Keine vereinfachten Erklärungen für Handlungsmotivationen anbieten. Auf die Folgen der Tat fokussieren. Keine Romantisierung verwenden und keine Heldengeschichten erzählen. Den Tathergang nicht zu konkret aufzeigen. Täterfantasien und emotionales Bildmaterial nicht zu anschaulich darstellen.

Doch bislang werden diese Richtlinien noch wenig beachtet, wie Studien ergaben. „Medien können durch bewussten Verzicht auf konkrete und emotionale Tätermaterialien den Nachahmungseffekt abschwächen und sogar durch das Aufzeigen von Lösungswegen aus den Krisen der Täter die Gefahr vermindern", betont Robertz. Ein US-Psychiater empfiehlt sogar: „Vermeiden Sie Fotos vom Täter, berichten Sie nicht rund um die Uhr und machen Sie den Vorfall so langweilig wie möglich für alle Medien außerhalb der betroffenen Gemeinde, damit die Berichterstattung lokal bleibt."

Bei Suiziden ist der schützende Effekt von verantwortungsbewusster Pressearbeit bereits belegt. Ein Beispiel: In der U-Bahn von Wien sank die Suizidrate um 80 Prozent, weil Zeitungen und Zeitschriften einfach darauf verzichteten, darüber zu berichten.

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