In der Ukraine tobt Krieg, in deutschen Großstädten öffnen nach monatelangen Schließungen die Diskotheken wieder. Lässt sich das eine beim anderen vergessen?
Tschüss Pandemie, hallo Leben! Mit sinkenden Infektionszahlen hätte alles so schön werden können. Ausgehen, unbeschwert urlauben, Festivals besuchen, sich in Frühlingshormonen suhlen, darauf ein Sommer im Rausch. Der 4. März, an dem in ganz Deutschland wieder die Klubs und Diskotheken öffneten, hätte der Startschuss sein können, sich endlich wieder in die Arme zu fliegen. Doch Wladimir Putin überfiel die Ukraine, aus dem Konflikt im Donbass wurde ein Krieg.
Seit Dezember galten auch in Hamburg Sperrstunde, Tanzverbot und ein Alkoholausschankverbot im Freien. Das ist jetzt vorbei. Und sollte eigentlich zelebriert werden, eine öffentliche Veranstaltung der Hamburger Klubs mit Hamburg-Prominenz wie Dragqueen Olivia Jones und Udo Lindenberg war geplant. Doch die Veranstaltung fand nicht statt. "In Europa fallen Bomben, Menschen sterben. Die zurückgewonnene Tanzfreiheit mit einer fröhlichen Parade über die Reeperbahn und Konfettikanonen groß zu feiern", hätte sich für Olivia Jones nicht richtig angefühlt.
Die Reeperbahn ist trotzdem voll mit Leuten. Biere und halb leere Weinflaschen in den Händen, aufgehübscht für die Nacht. Gegen 21 Uhr stehen sie vor den Corona-Schnelltestzentren an, vondenen es hier auf St. Pauli einige gibt - Nasenabstriche, gleich neben dem Sexkino. Jollena und Carlotta fallen auf, plüschige Mäntel, High Heels, filmreifes Make-up. Nach monatelangem Tanzverbot wollen sie heute endlich wieder richtig ausgehen, vielleicht ins Noho, eine Disco mit LED-Shows und Go-go-Tanzkäfig. Partystimmung in Zeiten eines neuen Kriegs in Europa? "Ich fühle mit den Menschen in der Ukraine, aber davon, dass ich zu Hause sitze und Trübsal blase, hat niemand etwas", sagt Jollena. Irgendwo sei ja immer Krieg. Ihre Freundin findet es nicht richtig, dass man, so sagt sie, einen Unterschied zwischen den Menschen mache. "Als die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, hat mich keiner gefragt, warum ich jetzt feiern gehe."
Nähert man sich dem Party-Hotspot Große Freiheit am unteren Ende der Reeperbahn, sieht man Menschentrauben. Massen wie diese gab es zuletzt auf dem Reeperbahn Festival im September 2021, danach wurde es allmählich still. Heute scheint hier alles wie immer zu sein, ein Pfandsammler schiebt einen Einkaufswagen mit Flaschenbeute vor sich her, aus den Stripklubs und Diskotheken wummert Musik, junge Menschen warten auf Einlass, etwa vor dem Elektroklub Halo. Am Ende der Schlange, die sich über den Beatles-Platz erstreckt, warten Rita und Marie, beide Anfang zwanzig. Rausgehen, wieder Leute treffen, sich beim Tanzen auspowern, das ist ihre Mission. "Warum soll man als junger Mensch nicht feiern gehen?", fragt Marie. Sie findet es "krass", was in der Ukraine passiert, sagt aber: "Ich muss mein Leben leben." Rita hat Verwandte in der Ukraine und weiß, dass es ihnen "sehr schlecht geht". Doch sie möchte nicht, dass das im Moment ihr eigenes Leben allzu sehr beeinflusst. In ihren Semesterferien sehnt sie sich nach Ablenkung vom Prüfungsstress.
Irre Viren, ein wahnsinniger PräsidentNoch unentschlossen, wohin es sie verschlägt, sind Samantha aus Kiel und Tahan aus Bremen. Sie haben sich gerade erst kennengelernt, sind extra für heute Abend mit Freunden nach Hamburg gekommen. Samantha hat die Bilder aus den Nachrichten zwar im Kopf, will aber trotzdem wieder ihr Leben genießen. "Normal, Alter", sagt sie.
Irre Viren, ein wahnsinniger Präsident: Die Welt strauchelt von einer Katastrophe in die nächste. Doch kann man einfach so dagegen antanzen, gegen den Weltschmerz? Man kann. Gin Tonic, Lichtblitze, Nebelmaschine, genug Zutaten für den Eskapismus. Im Indie-Klub Molotow findet heute "Friday, I'm in Love" statt, eine Partyreihe, bei der Indie-Hits aus den letzten Jahrzehnten Tänzer in Ekstase versetzen. "All Day and All of the Night" dröhnt aus den Boxen, die Tanzfläche wird immer voller. In einem Klub zu feiern, der "Molotow" heißt, während Zivilisten in der Ukraine gezwungen sind, sich gegen russische Soldaten mit selbst gebastelten Benzinbomben zu verteidigen - nicht drüber nachdenken.
Drinks rutschen über die Bar, Menschen tanzen ausgelassen, Ringelshirt knutscht mit Zebra-Print. Es ist eine gute Gelegenheit, die anderen wieder genauer zu betrachten, sah man sie doch lange nur in dicken Winterklamotten, Gesichter hinter Masken verborgen. Die Neunziger haben endgültig Einzug in die Kleiderschränke gehalten, überall Schlaghosen, Girlie-Frisuren, nackte Bäuche. Es läuft "Girls Just Wanna Have Fun". Das passt. Möchte der Klub doch, dass sich Frauen hier wohlfühlen. So ließ einen am Eingang der Türsteher wissen, dass es auf den Toiletten jetzt einen QR-Code gebe, mit dessen Hilfe man einen Hilferuf an das Personal absenden könne, sollte man sich von jemandem belästigt fühlen. Reingekommen ist heute nur, wer die 2G-plus-Regel erfüllt hat, also vollständig geimpft oder zusätzlich getestet ist.
Natalie und Thomas sind heiß aufs Tanzen, zappelten schon draußen in der Schlange ungeduldig herum. Konnten sie in den letzten Monaten nur zu Hause die Musik aufdrehen, werfen sie nun endlich wieder im Stroboskoplicht die Arme nach oben. "Manchmal habe ich fremde Leute von der Straße zu mir eingeladen, um das Gefühl zu haben, in einem Klub zu sein", erzählt Natalie. "Wir haben so lange unter der Pandemie gelitten. Heute will ich tanzen. Wer weiß, wie lange das überhaupt noch geht." Das Thema Ukraine beschäftigt sie sehr. Sie hat Geld gespendet und sich registrieren lassen, um vielleicht bald Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen.
Ein paar Straßen weiter, auf dem sogenannten Hamburger Berg, wo sich Kneipen und Tanzklubs aneinanderreihen, wirken die Menschen gegen drei Uhr nachts schon etwas ermattet. Vor einer Bar steht Moritz und raucht. Er war am Donnerstag auf einer Antikriegsdemo, am Samstag steht die nächste an. Das Ausgehen möchte er sich trotzdem nicht nehmen lassen: "Diese Auszeiten sind mir wichtig", sagt er.
Am Abend der Wiedereröffnung setzte die Berliner Klubszene mit "Club Culture United - Stand up for Ukraine" ein Zeichen für die Solidarität, versprach, einen Teil der Einnahmen zu spenden. Auf der Reeperbahn hätte man an diesem Abend eigentlich an jeder Ecke Ukraine-Flaggen erwartet. Nur auf der Tafel, die die U-Bahnen ankündigt, steht in Leuchtschrift, als man den Heimweg antritt, "Stoppt den Krieg". In drei Minuten. Schön wär's, leider ist es nur die Zeitangabe, bis die nächste Bahn einfährt.
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