Optimierung, Automatisierung, Kontrolle: Neue Techniken verändern die Arbeitswelt massiv. Die Gewerkschaft Verdi hält nun im Handel mit dem ersten Tarifvertrag für Digitalisierung dagegen.
Im Herbst vergangenen Jahres meldete die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Vollzug: Gemeinsam mit den Beschäftigten des schwedischen Textilkonzerns H&M war es gelungen, den ersten Digitalisierungstarifvertrag für den Handel in Deutschland abzuschließen. Als Mitglied des Bundesvorstandes und Verantwortliche für den Fachbereich Handel war Stefanie Nutzenberger für Verdi an den Verhandlungen beteiligt.
Im fünften und letzten Teil unserer Serie zu „KI und Arbeitswelt" spricht Stefanie Nutzenberger mit uns über den Digitalisierungstarifvertrag bei H&M und wie Künstliche Intelligenz die Arbeit im Handel verändern wird.
Tarifverträge sind für Beschäftigte und für uns als Gewerkschaft das Mittel, um Arbeitsbedingungen zu regeln. Da geht es um Lohn und Gehalt, um Urlaub, um Zuschläge. Sie sind damit auch das Instrument für die Sicherung und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Tarifverträge bieten Schutz. Vor ein paar Jahren haben wir bei Verdi begonnen, uns intensiv mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur bei H&M, sondern auch in anderen Unternehmen, zum Beispiel Ikea. Wir haben uns und die Beschäftigten gefragt, was das für die Kolleg:innen im Handel bedeutet. Wir haben schnell festgestellt: Technik muss menschengerecht gestaltet werden. Und: Die Beschäftigten kennen sich mit ihrer Arbeit am besten aus. Sie müssen beteiligt werden.
Wie haben die Beschäftigten auf diese Idee reagiert? Digitalisierung ist ja ein sehr abstrakter Begriff, konnten sich alle sofort etwas darunter vorstellen?Zu sagen, wir wollen 15 Prozent mehr Geld, ist einfacher. Die Auswirkungen der Digitalisierung herunterzubrechen, ist in der Tat kompliziert. Aber es gelingt uns immer besser. Im Übrigen ist Digitalisierung für Beschäftigte nicht abstrakt. Es ändern sich Tätigkeiten und Qualifikationen. Digitalisierung führt meist zu Arbeitsverdichtung und verstärkt zu Auseinandersetzungen um Flexibilisierung und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Den Beschäftigten geht es wiederum um selbstbestimmtes Handeln, darum, selbst entscheiden zu können. Es geht um die Frage, wie wir arbeiten wollen und wie wir Einfluss darauf nehmen können. Das verstehen die Leute sehr gut.
Die Arbeitgeberseite hat das am Anfang nicht so gesehen. Sie hat sich darauf berufen, dass es ja mit dem Betriebsrat schon interne Strukturen zur Gestaltung dieser Themen gebe. Bei dem Tarifvertrag haben wir nun die Beteiligung erweitert und zudem ganz andere Durchsetzungsmechanismen als bei Betriebsvereinbarungen. Wir haben bestimmt eineinhalb oder zwei Jahre gekämpft, geredet und auch gestreikt, damit überhaupt Verhandlungen zustande kamen. Wir haben immer wieder betont, dass ein Digitalisierungstarifvertrag auch für das Unternehmen Vorteile hat. Das ist dann irgendwann beim Arbeitgeber angekommen.
Welche Vorteile hat denn der Arbeitgeber von einem Digitalisierungstarifvertrag?Er hat ein reguliertes Verfahren. Er kann auf die Kompetenz seiner Beschäftigten zurückgreifen und er hat die Möglichkeit, bereits im Vorhinein Anforderungen an Technik genauer zu formulieren. Zudem kann er, wenn die Technik nicht gut läuft, schnell gegensteuern. Er verliert keine Beschäftigten, die krank werden, weil die Technik nicht menschengerecht gestaltet ist und er hat mit dem Tarifvertrag ein großes Pfund beim Werben um qualifizierte Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt.
Mit welchen Digitalisierungsmaßnahmen hat man es im Handel in erster Linie zu tun? Welche Technik kommt zum Einsatz?Es geht um Techniken zur Beratung von Kund:innen und zur Rationalisierung von Arbeitsabläufen, um Selbstscan-Kassen, um Warenwirtschaftssysteme, um Systeme zur Planung des Personalbedarfs und des Personaleinsatzes. Bei Unternehmen wie Amazon geht es direkt um Kontrolle der Beschäftigten: Eine Software steuert die Optimierung der Wege, denen die Beschäftigten folgen müssen sowie den Arbeitseinsatz über den Tag. All das soll Arbeitsprozesse verschlanken, schneller machen, effizienter machen. Diese Verdichtung belastet die Beschäftigten und führt immer wieder zu Dequalifizierung und prekärer Beschäftigung, wenn wir nicht gegenhalten. Es gibt im Handel keine Stelle, an der man nicht auf die eine oder andere Art mit Digitalisierung konfrontiert ist.
Laut Tarifvertrag müssen sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vor der Einführung der Technik über die genaue Gestaltung einigen. Wer stellt die Anforderungen auf und entscheidet schlussendlich, ob eine Technik im Unternehmen eingesetzt wird oder nicht?Wir haben zwei Gremien geschaffen. Im Digitalisierungsausschuss sitzt die Arbeitnehmerseite und die Arbeitgeberseite. Dort findet in einem sehr frühen Stadium ein Gestaltungsprozess über Technik statt, die neu eingeführt werden soll. Im zweiten Gremium geht es um strategische Zukunftskonzepte, da ist auch die Gewerkschaft mit haupt- und ehrenamtlichen Kolleg:innen dabei. Dort sprechen wir über Technik und Konzepte, die in Zukunft eine Rolle spielen könnten, aber die noch nicht konkret vorgesehen sind. Zudem wird, wie erwähnt, immer wieder Feedback der Beschäftigten eingeholt, das in beiden Gremien in den Gestaltungsdialog mit einfließt.
Für welche Regelung mussten Sie in den Verhandlungen besonders hart kämpfen? Was konnten Sie nicht durchsetzen?Für Künstliche Intelligenz, die Entscheidungen über Menschen und Arbeitsprozesse anstelle des Menschen trifft, ist es uns bisher nicht gelungen, uns auf explizite Regelungen zu einigen. Das ist sicher ein Thema, das man als nächstes angehen muss.
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Künstliche Intelligenz wird das Arbeiten radikal automatisieren. Die FR-Serie „Künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt" von Jana Ballweber untersucht Risiken dieser Technik - und wie man sie begrenzt.
Die Serie:
Editorial zur Serie von FR-Chefredakteur Thomas Kaspar.
Einführung: KI von A bis Z - die wichtigsten Fakten.
Teil 1: KI und Kapitalismus. Künstliche Intelligenz verspricht, Arbeitsprozesse zu erleichtern, nutzt aber zuerst dem Kapitalismus. Es könnte auch anders sein.
Teil 2: KI im Einsatz: betroffene Branchen und Tätigkeiten, Folgen für die Löhne.
Teil 3: Bedeutung der Künstlichen Intelligenz für Gewerkschaften, Betriebsräte und Plattformwirtschaft.
Teil 4: Auswirkungen von KI auf Datenschutz und Gesundheit, Diskriminierung durch KI (etwa bei Bewerbungen).
Teil 5: Wie Digitalisierung gestaltet und die Mitbestimmung der Beschäftigten festgeschrieben werden kann.
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Es ist deutlich geworden, dass es ein Interesse an einem gemeinsamen Arbeiten gibt. Natürlich muss man sich auch streiten, aber der Wille ist in jedem Fall da und wir haben erste gute Ergebnisse. Ich hätte mir noch etwas mehr Blick in die Zukunft gewünscht, die Frage nach einer langfristigen Strategie. Aber auch da kamen in den letzten Wochen erste Vorschläge von den Beschäftigten, die in den nächsten Treffen diskutiert werden.
Wie bereiten sich die Beschäftigten in den Gremien auf die Sitzungen vor? Sie sind ja keine Fachleute für Digitalisierung.Die Beschäftigten sind die Profis für die Abläufe im Arbeitsalltag und für die Anforderungen, die sie an gute Arbeit stellen. Sie wissen genau, was gebraucht wird. Anforderungen an Technik sind nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Unternehmen sind gut beraten, mit ihren Beschäftigten ins Gespräch zu gehen, sie einzubinden, ganz besonders auch bei der Gestaltung von Technik. Natürlich braucht es sehr viel Vorbereitung. Digitalisierung ist ein breites Feld, da gibt es eine unglaubliche Vielfalt an Themen. Gemeinsam über die Digitalisierung zu entscheiden, ist auch ein Kulturwandel, da Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschafter:innen unter anderem lernen müssen, konkret zu formulieren, was genau benötigt wird. Normalerweise sagt das Unternehmen, was gemacht wird, und die Arbeitnehmervertretungen müssen dann sehen, wie sie damit umgehen und über Änderungen verhandeln. Hier gibt es jetzt ein frühzeitiges Miteinander zwischen Arbeitnehmervertreter:innen und dem Management.
Sind aus diesem Miteinander denn schon konkrete Entscheidungen erwachsen?Im Ausschuss wurde ausgehandelt, dass Arbeitszeit, die durch den Einsatz von Selbstscan-Kassen bei den Beschäftigten frei wird, nicht eingespart, sondern in den direkten Kundenservice gesteckt wird. Noch im Gestaltungsprozess mit Entwicklern ist, wie Beschäftigte an den Kassen Unterstützung durch Kolleg:innen und Führungskräfte rufen können und wie der direkte Kundenservice im Personaleinsatzplanungssystem abgebildet werden kann. Des Weiteren konnte durch den Tarifvertrag eine Gesamtbetriebsvereinbarung zu Qualifizierung abgeschlossen werden, wodurch alle Beschäftigte zu Themen wie Materialkunde, Stil- oder Typenberatung qualifiziert werden. Ebenfalls im Gestaltungsprozess sind neue Apps, die Beschäftigte unterstützen, Kunden besser zu beraten. Nicht die Beschäftigten werden zur Assistenz der Apps, sondern eben umgekehrt, die Apps zur Assistenz der Beschäftigten. Das kommt auf lange Sicht auch dem Arbeitgeber zugute, weil Beratung vor Ort ein Alleinstellungsmerkmal des stationären Einzelhandels gegenüber der Online-Konkurrenz ist.