Das deutsche Gesundheitswesen kommt an seine Grenzen. Digitalisierung tut not. Doch wenn die nicht nur Konzernen nutzen soll, müssen sich auch die Strukturen grundlegend ändern.
Der Umstieg auf digitale Technologien will im deutschen Gesundheitssystem einfach nicht gelingen. Für die Terminvergabe hängen Patient:innen in stundenlangen Warteschleifen ihrer Arztpraxen, ihre Gesundheitsdaten transportieren sie nicht in einer elektronischen Patientenakte, sondern auf einer CD von einem Arzt zum anderen, und der bundesweite Start des elektronischen Rezepts verläuft mehr als nur stotternd.
Die Suche nach Gründen führt immer wieder zu denselben Feindbildern. Für die einen ist es der Datenschutz, der die Digitalisierung mit zu viel Bürokratie angeblich im Keim erstickt. Andere machen die Ärztinnen und Ärzte verantwortlich, die sich aus vermeintlicher Bequemlichkeit den modernen Zeiten verschließen.
Doch ein genauerer Blick zeigt, dass die Probleme bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems tiefer liegen. Thorsten Dirks, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Telefonica Deutschland, prägte 2015 ein Motto, das auf viele Digitalisierungsprojekte angewandt werden kann: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess." Übertragen aufs deutsche Gesundheitssystem bedeutet das: Die Digitalisierung eines kaputten Systems überträgt dessen enormen Probleme bloß in eine digitalere Zukunft. Die Probleme bleiben also.
Demografischer Wandel zwingt das Gesundheitswesen zu Reformen„Die Kosten werden uns um die Ohren fliegen", sagt Claus Wendt, der als Professor für Gesundheitssoziologie an der Universität Siegen forscht. „Es beginnt ja gerade erst die Entwicklung, dass die demografisch schwächeren Jahrgänge in den Arbeitsmarkt hineinkommen. Da werden wir mit unserem Sozialversicherungssystem, das auf Erwerbstätigen basiert, enorme Probleme haben." Wenn weniger Menschen erwerbstätig sind, werden auch weniger Versicherungsbeiträge gezahlt, von der eine alternde Gesellschaft gesundheitlich versorgt werden muss - eine Rechnung, die irgendwann nicht mehr aufgeht.
Fachleute fordern deshalb, das System effizienter zu machen und damit die Kosten zu senken. Statt vielen kleinen soll es in Zukunft weniger, aber dafür größere Krankenhäuser geben. Kleine Praxen sollen zu Primärversorgungszentren zusammengefasst werden, die sich beispielsweise eine Verwaltung teilen können, um so effizienter zu werden.
Digitalisierung kann im Gesundheitswesen Zeit und Kosten sparenDie Digitalisierung soll helfen, diese Reform überhaupt möglich zu machen. „Wenn weniger Einheiten da sind, muss man an die Notfallversorgung denken", warnt Claus Wendt. „Sobald in Dänemark, einem Vorreiter in Sachen Digitalisierung, jemand im Krankenhaus aufgenommen wird, sind alle vorhergehenden Untersuchungsergebnisse schon in die elektronische Patientenakte eingepflegt." Für eine Notfallversorgung im Krankenhaus sei in so einem Fall also schon alles vorbereitet - eine Zeitersparnis zum aktuellen System, wo in der Notaufnahme oftmals bei Null angefangen wird. „Einige Wege zum Krankenhaus sind länger als vorher, aber man kann es so organisieren, dass die Zeit bis zum Beginn der Versorgung insgesamt verkürzt wird", hofft Wendt. Ohne Digitalisierung kann die so dringend benötigte Reform der Versorgung nicht funktionieren.
Doch die Widerstände im deutschen Gesundheitssystem sind hoch. Weniger bei den Patient:innen, sagt Wendt. Die stünden Umfragen zufolge einer Digitalisierung des Gesundheitssystems positiv gegenüber - auch wenn sie aktuellen Zahlen zufolge die digitalen Angebote bislang nur sehr zurückhaltend nutzen. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung haben eine elektronische Patientenakte. Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) will diese Zahl erhöhen, indem alle gesetzlich Versicherten automatisch eine Akte bekommen, außer sie widersprechen. In Staaten, die bei den Reformen schon weiter sind, könne man beobachten, dass die Digitalisierung die Autonomie der Patient:innen gestärkt habe, berichtet Wendt: „Es geht ja nicht nur darum, dass andere meine Daten haben und irgendwas damit machen. Die Patientinnen und Patienten haben selbst Einblick in ihre Daten und sehen auch, wer auf sie zugreift." In Deutschland seien Patient:innen dahingehend noch „völlig unmündig".
Ärzteschaft geht bei Digitalisierung nur zögernd mitWiderstand spürt Wendt vor allem aufseiten der Ärzteschaft. Nur fünf Prozent aller Praxen nutzen das elektronische Rezept, nur vier Prozent aller Mediziner:innen haben schon einmal eine digitale Gesundheitsanwendung verschrieben, so ein Bericht der Unternehmensberatung McKinsey vom Februar. Ende 2021 forderten die kassenärztliche Bundesvereinigung und der Deutsche Ärztetag gar ein einjähriges Digitalisierungsmoratorium. Als Hauptgrund für die Ablehnung vermutet Wendt die alltägliche Überlastung der Beschäftigten im Gesundheitssystem: „Die Befürchtung ist hoch, dass man bei der Digitalisierung mit Aufgaben konfrontiert wird, die einen stärker belasten als dass sie einem helfen." Probleme, die sich mit größeren Krankenhäusern und Versorgungszentren durch eine gemeinsame Verwaltung leichter lösen ließen, so Wendt. Digitalisierung ermögliche nicht nur notwendige Reformen im Gesundheitssystem; es brauche die Reformen also auch umgekehrt für die Digitalisierung.
----------------------------------------------------------------------------------
E-Akte und E-RezeptDie elektronische Patientenakte soll alle Daten, die bei Untersuchungen und Behandlungen anfallen, zusammenführen. Patient:innen sollen sie über eine App selbst einsehen, ergänzen und beim Arztbesuch für die Praxis freigeben können.
Das E-Rezept, kurz für elektronisches Rezept, ist seit Anfang 2022 für Praxen, Apotheken und Patient:innen Pflicht. Rezepte sollen elektronisch erstellt und als QR-Code ausgedruckt oder in eine App auf dem Smartphone übertragen werden. Doch es läuft noch nicht rund. Wegen eklatanter Datenschutzmängel und technischen Schwierigkeiten verzögert sich die Einführung.
Das Forschungsdatenzentrum soll Daten aller gesetzlich Versicherten zusammenführen und der Forschung zur Verfügung stellen. Ob es soweit kommt, ist unklar. Aktuell gehen Datenschützer:innen dagegen vor. Wegen des fehlenden Widerspruchsrechts sehen sie ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet.
Die Telematikinfrastruktur (TI) ist das geschützte Netz, über das alle Akteur:innen im Gesundheitssystem sicher miteinander kommunizieren sollen. Die war in der Vergangenheit aber alles andere als zuverlässig. IT-Sicherheitsexpert:innen war es mehrfach gelungen, die TI zu knacken. Arztpraxen kämpfen immer wieder mit Systemausfällen, die im schlimmsten Fall den Praxisbetrieb lahmlegen können. Auch die hohen Kosten werden kritisiert.
Die „Apps auf Rezept" können von den Krankenkassen für ihre Mitglieder bezahlt werden. Eine Woche nach dem Start fanden Fachleute die ersten Sicherheitslücken. Kritik gibt es außerdem an willkürlich überhöhten Preisen der Hersteller und am Verfahren, das feststellen soll, ob eine App überhaupt eine gesundheitsfördernde Wirkung nachweisen kann. jaba
-----------------------------------------------------------------------------------
Profitieren könnten von der elektronischen Patientenakte nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Forschung. Um Aussagen über das Gesundheitssystem treffen zu können, sind Wissenschaftler:innen auf Daten angewiesen. Welche Krankheiten sind in welchen Einkommensschichten wie verbreitet? In welche Bereiche fließt besonders viel Geld? Welche Prävention zeigt Wirkung und welche nicht?
Die Daten aus der E-Akte sollen helfen, diese Fragen zu beantworten und so das Gesundheitssystem zu verbessern. Alle Daten, die im Laufe von Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten anfallen, sollen in der elektronischen Patientenakte landen - möglichst vollständig und einheitlich. Und dann sollen sie auch der Forschung zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit für eine sogenannte Forschungsdatenspende ist derzeit schon gesetzlich vorgesehen. Die Daten werden zukünftig im deutschen Forschungsdatenzentrum landen. Wissenschaftler:innen können dort einen Antrag stellen, um die Daten aus dem Forschungsdatenzentrum für ihre Studien zu nutzen. Noch ist das Zukunftsmusik, doch das Forschungsdatenzentrum soll voraussichtlich im Herbst dieses Jahres mit den Abrechnungsdaten der Krankenkassen starten und später auf die elektronische Patientenakte ausgeweitet werden - sofern das Gesetz, das aktuell juristisch angefochten wird, vor Gericht Bestand hat.
Patient oder Konzern - wem gehören die Gesundheitsdaten?Auch auf EU-Ebene ist eine Initiative für eine stärkere Nutzung von Gesundheitsdaten im Gespräch. Der „Europäische Gesundheitsdatenraum" soll nach Wunsch der EU-Kommission Gesundheitsdaten aller EU-Bürger:innen sammeln - aus elektronischen Patientenakten, von den Krankenkassen, aber auch aus Apps, Fitnesstrackern und allen möglichen Datenquellen, in denen gesundheitsrelevante Daten entstehen können.
Zugriff auf diese Daten hätten nach jetzigem Stand des EU-Entwurfs auch Konzerne, die mit kommerziellem Interesse im Gesundheitsbereich forschen. Die Daten werden dafür nicht immer anonymisiert. In manchen Fällen wird es möglich sein, einen Datensatz zu einer Person zurückzuverfolgen. Eine Entwicklung, die Wendt durchaus kritisch sieht: „Wenn man Therapien mithilfe von Geninformationen individualisiert, kann man das kommerziell viel mehr ausreizen."
Prävention ist auch ohne personenbezogene Daten möglichDas Gesundheitssystem würde aber deutlich mehr profitieren, wenn man zum Beispiel in die Prävention investiert, anstatt Therapien zu entwickeln, die nur einer oder wenigen Personen zugutekommen, dafür aber teuer verkauft werden können. „Wir wissen, dass der eigentliche Einfluss des Gesundheitssystems auf die Gesundheit eher reduziert ist. Die großen Einflussfaktoren sind Ernährung, sportliche Aktivität, der Nicht-Missbrauch von Drogen", betont Wendt. Um in diesem Bereich etwas zu tun, brauche man keine personenbezogenen Daten und könne trotzdem einen viel größeren Effekt auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung haben, so der Soziologe. „Das bedeutet nicht, dass man an diesen individualisierten Therapien gar nicht forschen sollte, aber hier könnte man die Hürden für die Datennutzung viel höher legen."
Eine weitere Baustelle ist für Wendt, dass alle derzeit vorgesehenen verpflichtenden Digitalisierungsregelungen in Deutschland nur für gesetzlich Versicherte gelten. Wer privat versichert ist, bekommt keine elektronische Patientenakte und muss seine Daten nicht weitergeben. „Die Gesamtgesellschaft sollte unbedingt repräsentativ erfasst sein. Dann könnten wir auch mal sehen, welche Vorteile Privatversicherte in bestimmten Bereichen haben. Wir könnten genau sehen, wie sich die längeren Wartezeiten für gesetzlich Versicherte im Einzelfall nachteilig auswirken. Wir könnten messen, ob es in unserem System eine Ungleichheit gibt, die ethisch überhaupt nicht zu rechtfertigen ist", skizziert Wendt.
Die Digitalisierung würde womöglich zeigen, dass die Trennung in gesetzliche und private Kassen teuer istEine ethisch nicht zu rechtfertigende Ungleichheit: Das Resultat einer solchen Forschung müsste wohl bedeuten, dass die Trennung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufgelöst wird. Was aus Sicht von Claus Wendt dringend geboten ist, um Kosten zu senken, um das System fit für die Zukunft zu machen. Über Sinn und Unsinn dessen können aber nur faktenbasierte Aussagen getroffen werden, wenn es mit der Digitalisierung im deutschen Gesundheitssektor endlich vorangeht.
Doch auch wenn technische Hürden, berechtigte Datenschutzbedenken und komplizierte bürokratische Strukturen ausgeräumt wären: Es hapert bei der Verwirklichung vor allem am Willen der Fachpolitiker:innen und aller Beteiligten im Gesundheitssystem, die notwendigen großen Reformen anzugehen, die eine nützliche und sichere Digitalisierung erst möglich machen.