Eine Studie zeigt, welche Strukturen in Vereinen und Verbänden das Risiko für sexualisierte Gewalt erhöhen.
Der Gang in den Sportverein gehört für viele Kinder und Jugendliche ganz selbstverständlich zum Alltag. Eltern schicken ihre Kinder gerne zum Sport, weil er gesundheitsfördernd ist und Werte wie Teamplay, Fairness oder Kameradschaft vermitteln kann. Die Kindern lernen Spaß an der Bewegung und können Freundschaften schließen. Einigen Wenigen eröffnen Sportvereine und -verbände zudem den Weg in eine Karriere im Spitzensport.
Doch das ist nur die eine Facette. Es gibt noch eine zweite. Und die will so gar nicht in die Erzählung vom sauberen, gesunden und fairen Sport passen. Die „dunkle Seite des Sports" nennt sie Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die am Dienstag eine Studie zu sexualisierter Gewalt im Kontext des Sports vorgestellt hat. Denn für einige Menschen lauern im Sport die Ursachen für ihre schlimmsten Traumata.
Die Studie wertet die Berichte von Betroffenen sexualisierter Gewalt im Sport aus, die diese in vertraulichen Anhörungen mit der Kommission geteilt haben. Sexualisierte Gewalt umfasst eine ganze Bandbreite grenzüberschreitender Verhaltensweisen, angefangen von verbalen Belästigungen oder Textnachrichten mit sexuellen Inhalten, über Grenzverletzungen zum Beispiel bei Hilfestellungen im Sport oder in Umkleidesituationen, bis hin zu ungewollten sexuellen Berührungen, Küssen und Vergewaltigung.
72 Berichte flossen in die Studie ein. 72 Schicksale, die sehr unterschiedliche sind, aber auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Gemeinsamkeiten, denen die Autorinnen der Studie um die Kölner Sportsoziologin Bettina Rulofs auf die Spur kommen wollten, um herauszufinden, wo die Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt schlummern, die charakteristisch für den Sport sind.
Drei Viertel der Betroffenen in der Studie sind weiblich, ein Viertel männlich. Sie stehen in 94 Prozent der Fälle männlichen Tätern gegenüber. Diese Zahlen haben Rulofs nicht überrascht: „Täter treffen im Sport auf Strukturen, die ihnen die Gewaltausübung erleichtern." Auf der einen Seite erlebe man häufig eine Normalisierung von Sexismus im Sport, die es besonders schwer mache, Mädchen zu schützen.
Auf der anderen Seite herrsche im Sport immer noch eine weit verbreitete Ablehnung von Homosexualität, sodass betroffene Jungen Ausgrenzung befürchten, wenn sie von sexualisierter Gewalt berichten, die ein Täter an ihnen verübt hat. Insbesondere Betroffene, die tatsächlich schwul seien, hätten häufig auch viele Jahre nach den Taten noch mit Schuld- und Schamgefühlen zu kämpfen. So auch Simon, ein Betroffener, dessen Aussage der Bericht zitiert: „Regelmäßig befallen mich Schuldgefühle, auch weil ich das Gefühl habe, dass ich durch meine Homosexualität etwas ausgestrahlt habe, was den Täter animiert haben könnte."
Schuld und Scham empfinden Betroffene aber noch aus anderen Gründen. Insbesondere bei minderjährigen Mädchen gebe es oft eine vermeintliche Einvernehmlichkeit, berichtet Rulofs: „Trainer gerieren sich als allseits begehrte Lover. Damit lassen sie Konkurrenzverhältnisse im Team entstehen, bei denen die Mädchen um sportliche und emotionale Aufmerksamkeit des Täters buhlen."
Dass es sich bei einer sexuellen Beziehung in diesen ungleichen Machtverhältnissen trotzdem um sexualisierte Gewalt handelt, werde vielen Betroffenen oft erst Jahre später klar: „Ich habe ganz lange damit ein Problem gehabt, dass es sozusagen im Einvernehmen war. Ich hatte nicht einen Moment, wo er mich quasi vergewaltigt hat oder so was in der Richtung, und das hat es echt schwer gemacht, das als solches zu sehen, was es war", berichtet Tina, die mit 13 Jahren eine vermeintliche Liebesbeziehung zu ihrem 22-jährigen Turntrainer hatte.
Das Turnen ist die Sportart, die im Bericht mit 17 Prozent am häufigsten Kulisse sexualisierter Gewalt im Sport wurde, gefolgt vom Fußball mit zehn Prozent. Das seien aber auch die beiden Sportarten, die in Deutschland mit Abstand die meisten aktiven Sportler:innen haben, berichtet Rulofs. Erhöhtes Risiko gebe es auch in Sportarten, denen eine gewisse Exklusivität nachgesagt werde, zum Beispiel dem Eissport oder dem Reiten. Wo es nur wenige Orte gebe, an denen der Sport ausgeübt werden kann, und nur wenige Übungsleiter:innen, die das Training durchführen können, sei die Hürde, sexualisierte Gewalttaten offenzulegen, für Betroffene nochmal ungleich höher. Zu groß sei die Angst, die Strukturen kaputt zu machen und vielen anderen die Chance zu nehmen, diesen Sport auszuüben.
Betroffene sexualisierter Gewalt kämpfen ihre Leben lang mit den körperlichen und psychischen Folgen. Die werden in vielen Fällen verstärkt durch die Abwehrhaltung von Vereinen und Verbänden, die den Betroffenen entgegenschlug, wenn sie die Gewalttaten öffentlich machten. Einige berichten gar, dass ihnen Verleumdungsklagen angedroht wurden.
Angela Marquardt vom Betroffenenrat für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs will Verbände und Vereine in die Pflicht nehmen: „Der Sport hat sich seiner Verantwortung zu stellen." Immer wieder seien es Betroffene, die die Wege des Aufdeckens gehen müssten, die Grenze des Schweigens durchbrechen müssten. „Sie setzen sich damit dem Urteil der Institutionen und dem Urteil der Öffentlichkeit aus", so Marquardt. Der Sport ist ihrer Ansicht nach den Betroffenen die Aufarbeitung der Gewalttaten schuldig. Dabei passiere noch zu wenig: „Der organisierte Sport weigert sich, sich an der Finanzierung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport zu beteiligen. Das können wir nicht durchgehen lassen." Das Zentrum ist ein Projekt der Ampel-Koalition und soll unter anderem als unabhängige Anlaufstelle für Betroffene fungieren.
Auch Heiner Keupp von der Aufarbeitungskommission sieht bei Verbänden und Vereinen noch deutlich Luft nach oben: „Oft sehen wir eine Flucht in die Prävention. Was fehlt, ist das Reden über die Vergangenheit. Die schmerzliche Last der Betroffenen muss anerkannt werden. Ohne Aufarbeitung kann es auch keine Prävention geben."