Wirtschaft In Altenheimen und Kitas
Traum vom schnellen Test - So nah sind wir „der Lösung für den Winter"Antigen-Schnelltests werden als „Game Changer" beworben. Zwar spielen sie bisher kaum eine Rolle, doch das ändert sich. Die Nachfrage hat den Markt bereits leer gefegt. Wie gut sind die Tests wirklich?
Im Hermann-Josef-Pflegeheim im rheinländischen Erkelenz hat Ursula Hönigs alles vorbereitet. Ein Besucherkonzept ist erstellt, das Personal wurde geschult, eigentlich könnte nun regelmäßig per Antigen-Schnelltests auf das Coronavirus getestet werden. Das Problem: Die bestellten Tests sind nicht da. Wann die Lieferung kommt - Heimleiterin Hönigs kann es nicht sagen.
Die gleiche Bild in Baden-Württemberg. Hunderte Heime haben dort Konzepte erarbeitet. Pro Bewohner werden in der Regel 20 Tests im Monat finanziert, ein Großteil des Kontingents kann auch von Besuchern oder Personal benutzt werden. „Wir bestellen alles, was wir bekommen", sagt Alexandra Heizereder vom gemeinnützigen Unternehmen Evangelische Heimstiftung. Die Lieferzeit betrage etwa vier Wochen. „Wir würden ja gerne anfangen, die Tests sind aber nicht da."
Die Erwartungen an Antigen-Schnelltests sind hoch. Anders als PCR-Tests suchen sie in Abstrichproben nicht nach Erbgut, sondern nach Molekülen, die charakteristisch für die Viren selbst sind. Beworben werden sie seit Monaten mit pathetischen PR-Kampagnen - wahlweise als „Game Changer" oder „Lösung für den Winter". Infektionsketten könnten durchbrochen, ein erneuter Lockdown verhindert werden, hieß es lange.
Die Realität sieht bislang anders aus: Der zweite Lockdown ist da, die Übermittlung von PCR-Testergebnissen dauert oft tagelang, Gesundheitsämter scheitern an der Nachverfolgung, die Neuinfektionen sind so hoch wie nie, und in vielen Altersheimen gibt es Ausbrüche. Alles also bloß heiße Luft?
100 seriöse ModelleNach wie vor kritisieren Experten, die Antigentests seien zu ungenau - positive Ergebnisse müssten im Labor durch die gängige PCR-Variante, bei der das Erbgut des Virus nachgewiesen wird, noch mal bestätigt werden. Vor „überzogenen Erwartungen" warnt Andreas Bobrowski, Vorsitzender des Laborärzteverbands.
Antigentests seien „bestenfalls ein zusätzlicher Schutzschild" in Heimen, meint er. „Wir wollen die Tests nicht verteufeln, aber sie sollten dort eingesetzt werden, wo es Sinn macht. Insofern müssen wir dem Gesundheitsminister widersprechen, der bis zu neun Millionen Antigentests im Monat plant."
Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Tests bislang kaum Chancen hatten, ihre Wirkung in der Breite unter Beweis zu stellen. Pläne gibt es seit Monaten. Doch erst im September kündigte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an, in Heimen regelmäßig Schnelltests durchführen zu wollen, um Personal, Besucher und Bewohner besser zu schützen. Denkbar seien Besucherschleusen, sodass der Zutritt nur mit negativem Testergebnis gestattet ist.
Eine erste Bilanz ist ernüchternd. Eine Umfrage von WELT unter den vier großen Betreiberverbänden der rund 14.000 deutschen Heime konnte kein einziges Haus ermitteln, in dem Antigen-Testungen bereits die Regel sind.
Es heißt unisono: Konzepte wurden entwickelt und große Mengen an Tests bestellt. Es sei aber nicht klar, wann, wie regelmäßig und in welcher Stückzahl sie geliefert werden. Einzig der Verband privater Anbieter sozialer Dienste meldet, dass am Wochenende die Auslieferung von fünf Millionen Tests angelaufen sei.
Das ist insofern verwunderlich, als die Liste der Hersteller mittlerweile ziemlich lang ist - also theoretisch ein großes Angebot besteht. Neben deutschen Start-ups wie R-Biopharm, MEDsan oder Devidia haben auch Branchengrößen wie Siemens Healthineers oder Abbott Schnelltests auf den Markt gebracht. Exakt 100 seriöse Modelle listet das Bundesinstitut für Arzneimittel aktuell, die meisten davon kommen aus China, Korea und den USA - was zur Problematik beiträgt.
Nachfrage übersteigt ProduktionsmöglichkeitenDenn die Lieferschwierigkeiten entstehen auch dadurch, dass der größte Teil der Bestellungen bei etablierten europäischen Herstellern wie dem Baseler Unternehmen Roche eingeht. Das jedenfalls vermutet ein Einkäufer im Gesundheitswesen, der anonym bleiben möchte. Roche komme deshalb mit den Lieferungen nicht hinterher. Paradox: Die Roche-Tests werden vom koreanischen Unternehmen SD Biosensor hergestellt. Genau genommen übernimmt Roche nur den Vertrieb.
Allein im Oktober seien 40 Millionen Schnelltests produziert worden, im Dezember sollen es doppelt so viele sein, heißt es bei Roche auf Nachfrage. „Der Markt ist völlig ausverkauft", sagte Unternehmenschef Severin Schwan in der vergangenen Woche. Generell übersteige die Nachfrage die Produktionsmöglichkeiten deutlich.
Bald wollen die Schweizer einen Speicheltest auf den Markt bringen, der nicht nur von medizinischem Fachpersonal, sondern auch privat durchgeführt werden kann und ebenfalls in Minuten Ergebnisse liefern soll. „Allerdings ist das eine Herausforderung, weil die Viruslast im Speichel geringer ist", sagt Schwan.
In der Realität zeigen Antigen-Schnelltests bislang jedenfalls wenig Wirkung. Seit Wochen sind viele Labore mit der Verarbeitung der gängigen PCR-Tests überlastet und die Materiallieferungen so unzuverlässig, dass Ergebnisse tagelang nicht übermittelt werden und in der Konsequenz die Nachverfolgung teilweise aufgegeben wird. Eigentlich war der erneute Materialmangel lange absehbar, stieg doch die Zahl der Tests seit dem Frühjahr fast kontinuierlich an.
Engpässe in den LaborenDoch das RKI warnt vor Engpässen in den Laboren: Immer mehr Einrichtungen melden Lieferschwierigkeiten für Reagenzien, insbesondere Pipettenspitzen, mit denen Proben extrahiert werden. Die Situation verschärfe sich durch die starke Abhängigkeit von einzelnen Herstellern.
Die Folge: Die freien Kapazitäten werden sich wohl bald reduzieren. Schon jetzt wächst der Rückstau der Labore exponentiell. Allein letzte Woche gaben 57 Labore einen Rückstau von 68.500 Proben an.
Der Diagnostikhersteller Qiagen hat auf die Knappheit reagiert. Eine weiterentwickelte Technologie reduziert den Einsatz von benötigten Pipettenspitzen pro PCR-Test von zehn auf drei. „Das erlaubt Laboren, bei gleichbleibendem Kunststoffverbrauch dreimal mehr Tests durchzuführen und so den Rückstau abzuarbeiten", sagt Mitentwickler Kai te Kaat zu WELT.
Auch ins Geschäft mit den Antigentests steigt Qiagen bald ein. Bald sollen mehrere Millionen Stück pro Monat produziert werden. Die Sensitivität des Tests, also die tatsächliche Erkennung Erkrankter, liege bei 90 Prozent. Die Spezifität betrage 100 Prozent - dass ein Gesunder falsch-positiv getestet wird, wäre also ausgeschlossen.
Schon jetzt sei die Nachfrage riesig, sagt ein Sprecher. Allerdings sagt auch er: „Antigentests können nur eine Ergänzung zur PCR-Variante sein."
Test- und PersonalproblemPeter Bauer ist gleicher Ansicht. Der Genetiker arbeitet beim Rostocker Unternehmen Centogene, das seit Sommer mehrere PCR-Testzentren an Flughäfen betreibt - dort werden die Ergebnisse zwar relativ rasch übermittelt, die Kosten liegen allerdings weit über dem Schnitt und werden von den Krankenkassen nicht übernommen.
Eine zweite Auswertung von Proben, die das Centogene-Labor mittels PCR-Test bereits positiv meldete, hätte ergeben: „Ein herkömmlicher Antigentest hat nur 50 Prozent derselben Proben als positiv erkannt." Mit einem deutlich aufwendigeren, aber auch teureren Test seien es 93 Prozent gewesen.
„Antigentests funktionieren vor allem bei symptomatischen Menschen mit hoher Virenlast. Das genauere PCR-Testsystem können sie deshalb nicht ersetzen. Eine sinnvolle Ergänzung in Schulen und Kitas sind die Antigentests allemal", findet Bauer.
Genau das schlägt nun Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) vor. Die Ankündigung komme jedoch Monate zu spät, moniert der baden-württembergische FDP-Chef Michael Theurer. Man habe wertvolle Zeit ungenutzt verstreichen lassen.
Den Vorrang vor Schulen dürften ohnehin Altersheime haben. Noch entfernter scheint nun auch die im Sommer gehegte Hoffnung: dass nämlich mittels Schnelltests wieder Konzerte, Großveranstaltungen und volle Stadien möglich werden. Denn schon in Pflegeheimen selbst fehlt es an medizinischem Personal - der Abstrich darf weiterhin nur von ausgebildeten Fachkräften vorgenommen werden.