Karriere Vom Studienabbrecher zum Chef
„Im besten Fall war der Kontostand am Monatsende null"Das Handwerk sucht verzweifelt nach Fach- und Führungskräften. Zweiradmechaniker Thomas Becker wurde vom Studienabbrecher zu seinem eigenen Chef. Doch die Freiheit musste er sich hart erarbeiten und jahrelange finanzielle Opfer bringen.
Mit ölverschmierten Fingern fährt Thomas Becker über den Schriftzug, der auf dem silbernen Stück Rohmetall eingeprägt ist. „Meerglas" steht auf dem Rahmen, den der Mechaniker innerhalb weniger Wochen in ein Rennrad verwandeln wird. „Vorsicht, frisch gelötet", warnt Becker. Meerglas - so hat der 34-Jährige seine Werkstatt im Berliner Stadtteil Lichtenberg genannt.
Auf knapp 80 Quadratmetern eines alten Getreidespeichers stellt der gebürtige Brandenburger maßgefertigte Fahrräder her, für die er schon mehrere Preise gewonnen hat. Nach dreijähriger Ausbildung zum Zweiradmechaniker und anschließender Meisterprüfung folgte die Selbstständigkeit. Seit nunmehr vier Jahren ist Thomas Becker sein eigener Chef.
Eigentlich begeistern solche Karrieren das deutsche Handwerk, das seit Jahren händeringend nach Nachwuchs und Führungskräften sucht. Landesweit stehen in den kommenden Jahren rund 200.000 Betriebe vor dem Führungswechsel, sagt Andrea Greilinger vom Ludwig-Fröhler-Institut für Handwerkswissenschaften, einer Forschungseinrichtung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH).
„Der Weg zur Selbstständigkeit war furchtbar hart"Der Bundesagentur für Arbeit zufolge fehlen mindestens 150.000 Fachkräfte im Handwerk, der ZDH geht sogar von 250.000 Stellen aus. Und deutlich ist, worauf Berufsanfänger kaum noch Lust haben: Besonders unbeliebt sind etwa Ausbildungen zum Metzger, Bäcker oder Klempner.
Die Verdienstchancen im Handwerk hingegen werden besser, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vorrechnet: Beinahe ein Drittel der Meister und Techniker hat laut einer hauseigenen Studie aus dem Jahr 2016 einen höheren Stundenlohn als der Durchschnittsakademiker. Und rund ein Viertel der Akademiker wiederum verdient weniger als der Durchschnitt der Meister und Fachwirte - was jedoch stark von der Branche abhängt.
Nur ein Beispiel aus der aktuellen Gehaltsstudie der Karriereplattform Stepstone (gehört wie WELT zur Axel Springer SE): Als ausgebildeter Elektroniker mit Meisterbrief locken jährlich fast 45.000 Euro. Studierte Sozialarbeiter hingegen verdienen im Jahr durchschnittlich 10.000 Euro weniger.
Die Handwerkskammern und Verbände schwärmen seit Jahren von vollen Auftragsbüchern und wunderbaren Aufstiegschancen. Dass aber nicht jeder gleich eine Traumkarriere hinlegt, nur weil Nachwuchs fehlt und die Nachfrage hoch ist, zeigt der Werdegang von Thomas Becker. „Der Weg zur Selbstständigkeit war furchtbar hart", sagt er im Rückblick auf die vergangenen Jahre. „Und trotzdem würde ich es genauso noch mal machen, denn heute habe ich die Freiheit, als eigener Chef meiner Leidenschaft nachzugehen."
Handwerkerhose statt AnzugSein Weg belegt das, was Handwerksforscherin Greilinger über den Berufsstand sagt: „Die Karrierechancen hängen stark von Branche, Betriebsgröße und den Rahmenbedingungen ab. In kleineren Betrieben kann es unter Umständen schwieriger sein, als frischgebackener Meister sofort auch formal eine höhere Position zu erhalten." Generell seien die Chancen aber deutlich besser als noch vor wenigen Jahren - was jedoch nicht automatisch auf jeden Einzelfall zuträfe.
Über das oft zitierte Credo, dass Handwerk „goldenen Boden" habe, kann Becker nur müde lächeln. Golden glänzt in der Meerglas-Werkstatt in Berlin nämlich überhaupt nichts. Bei Becker hat das Handwerk eher einen Backsteinboden, der mit Billiglaminat überzogen und voller Ölflecken ist. „Da wird schon einiges romantisiert. Bei mir hat es vier Jahre gedauert, bis ich mir ein eigenes Gehalt zahlen konnte. Davor ging alles in den Betrieb." Heute kann Becker von der Werkstatt leben. Aber über Jahre habe er „fast an der Armutsgrenze gelebt" und sich regelmäßig Geld von Bekannten leihen müssen.
Rein optisch würde man eher nicht vermuten, dass Becker Geschäftsführer ist, denn der Mittdreißiger entspricht so gar nicht dem landläufigen Klischee-Boss: Früh morgens fährt er mit der Straßenbahn zur Arbeit, statt Maßanzug trägt er eine Handwerkerhose, die voller Farbkleckse ist. Auf dem linken Arm trägt Becker eine Kompassnadel als Tattoo und neben dem blonden Ziegenbart fallen sofort die Tellerohrringe auf, die seine Ohrläppchen besorgniserregend nach unten geweitet haben.
Auch sein Büro sieht nicht gerade nach Chefetage aus. Auf dem kleinen Schreibtisch liegen allerlei Ersatzteile neben der verstaubten Tastatur eines alten Computers, und von der Decke hängen Fahrradfelgen.
Becker bringt sich selbst Schweißen und Löten beiDass Thomas Becker eines Tages hier als sein eigener Chef sitzen würde, war nicht von langer Hand geplant. Zunächst sah alles anders aus: Im Jahr 2004 macht Becker in Wittenberge das Fachabitur. Obwohl er nach eigenen Worten ein „Mathe-Ass" war, bringt er es nur auf einen Schnitt von 3,7.
Es folgen der Zivildienst und ein Praktikum in einem Ausbesserungswerk der Bahn, bei dem er sich das erste Mal mit Metallbau beschäftigt. „Für meine Eltern war klar: Ich sollte Maschinenbau studieren, genau wie mein Vater." Eigentlich möchte Becker zum Studium in die Hauptstadt. „Mit meinem Schnitt hatte ich aber schlechte Chancen."
Statt Berlin heißt es Brandenburg an der Havel. „Ich habe schnell gemerkt, dass das Studium nichts für mich ist", erzählt Becker. Denn der Stoff interessiert den jungen Mann nur mäßig: „Viel Informatik, wenig Mechanik. Als Ingenieur würde ich wohl die meiste Zeit am Schreibtisch sitzen."
Dabei ist Becker schon damals einer, der lieber anpackt und sich die Hände schmutzig macht. Anstatt für Klausuren zu pauken, bringt er sich selbstständig Schweißen und Löten bei. Und während seine Kommilitonen die Wochenenden in der Bibliothek verbringen, fährt Becker nach Berlin und feiert die Nächte durch. Ganze sechs Semester läuft das so, ein Abschluss ist nicht in Sicht. Irgendwann zieht er einen Schlussstrich. „Für meine Familie war der Abbruch ein Tabu."
Studienabbruch als BefreiungThomas Becker fällt damit unter die Quote der Studienabbrecher, die seit mehreren Jahren ansteigt - parallel zur Zahl der Studenten: Mittlerweile beginnt fast die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium. Im Wintersemester 2018/2019 waren rund 2,87 Millionen Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben - so viele wie nie.
Die Abbrecherquote liegt seit mehreren Jahren relativ konstant hoch, mit leichtem Zuwachs. Fast 30 Prozent der Studenten beenden ihr Bachelorstudium nach Zahlen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung heute ohne Abschluss. Um sie wirbt das Handwerk seit einigen Jahren massiv.
Für Becker ist der Abbruch kein Scheitern, sondern eine Befreiung. Nun kann er endlich tun, worauf er wirklich Lust hat: Er beginnt eine Ausbildung zum Zweiradmechaniker in Berlin. Das Gehalt ist mickrig, aber der Lehrling zufrieden. Denn der kleine Betrieb bildet ihn zusätzlich an der Fräsmaschine und in der Schlossertechnik aus. „Im Studium hingegen lernt man diese Maschinen nur in der Theorie kennen."
Nach der Ausbildung jobbt Becker in mehreren Fahrradläden. 2012 macht er sich mit dem Angesparten auf Reisen: Zehn Monate lang fahren er und seine Freundin über den Balkan, die Türkei und den Iran in Richtung Asien - natürlich mit dem Fahrrad. Das Reisen, sagt Becker, habe seinen Horizont erweitert. Und ihn bei der Namensgebung für die eigene Werkstatt inspiriert. In Dänemark fand er vor Jahren ein schönes Stück Meerglas am Strand - der Name für seine spätere Produktionsstätte ist geboren.
„Finanziell waren die Anfangsjahre hart"Doch der Weg zum eigenen Chef hält einige Hürden bereit. Zurück in Deutschland spart Becker für den Meister und zieht zur Prüfung ein halbes Jahr nach Frankfurt. Mit dem Schein in der Tasche ist er sich sicher: Er wird selbstständig. Zunächst ist der Rahmenbauer aber in einer maroden Werkstatt im Berliner Osten untergebracht und lebt trotz Selbstständigkeit so ziemlich das Gegenteil des Traums vom eigenen Chef: „Kein fließendes Wasser, Regen kam durch die Decke, und statt Toilette gab es ein Dixi-Klo auf dem Hof."
Das, was Becker mit dem Laden verdient, steckt er direkt wieder ins Geschäft - denn gute Maschinen kosten selbst gebraucht viel Geld. „Finanziell waren die Anfangsjahre hart. Im besten Fall war der Kontostand am Monatsende null." In schlechten Monaten denkt Becker sogar daran hinzuschmeißen, und es folgt ein weiterer Rückschlag. Eines Morgens steht er vor einer aufgebrochenen Tür: Jemand ist eingebrochen, Maschinen und Werkzeuge sind nicht versichert.
Für Becker, mittlerweile Vater einer Tochter, ist daher schnell klar: Er braucht einen Neuanfang. Eine neue Niederlassung muss her. Nur wenige Kilometer weiter wird er fündig und zieht 2017 zusammen mit zwei befreundeten Mechanikern auf das Areal der alten Konsumgenossenschaft in Lichtenberg. Man hilft sich gegenseitig aus und teilt Werksräume und Miete.
Doch das riesige Gelände entwickelt sich kurze Zeit später zum Albtraum. Investoren möchten dort Wohnungen und Büros bauen und die alten Fabrikhallen hierzu aufwendig sanieren oder abreißen - was eine Vervielfachung der Miete bedeuten könnte. „Es ist eine Frage der Zeit, bis wir rausfliegen", glaubt Becker.
Auch im Berliner Senat war das Industriegebiet schon Thema - die Lage für die Handwerker ist aber nach wie vor unverändert. Im Oktober soll der neue Bebauungsplan stehen. „Die Sicherheit fehlt allen Betrieben auf dem Gelände, wir haben eine Kündigungsfrist von nur sechs Wochen." Neue Kredite für Maschinen seien deshalb ein Ding der Unmöglichkeit. Auf Dauer, sagt Becker, könne man so nicht arbeiten.
„Als Ingenieur würde ich heute viel mehr verdienen"Der Mechaniker hat deshalb den Entschluss gefasst, die Hauptstadt zu verlassen. Schon bald geht es mit seiner Familie zurück in die brandenburgische Heimat. Hier soll Meerglas in einer Bauernscheune wiedereröffnen. „Für Start-ups mag Berlin perfekt sein, für Handwerker hingegen ist es eine Katastrophe. Gerade kleinere Betriebe haben keinerlei Lobby und werden verdrängt."
Wie Becker in Handwerkskreisen mitbekommen hat, plagen Kollegen in anderen Großstädten, die eine ähnliche Aufwertung erleben, ähnliche Probleme. Statistisch, sagt Handwerksforscherin Greilinger, ließe sich eine Verdrängung aber nicht belegen. „Auf dem Land hingegen locken günstige Mieten und größere Flächen", meint Becker.
Für ihn könnte der Umzug in die Provinz funktionieren. Denn die Fahrradbranche boomt, und treue Kunden kommen aus ganz Deutschland zu ihm. Dass längst nicht alle Selbstständigen in dieser komfortablen Lage sind, ist Becker klar. Gerade deshalb, und aufgrund des steinigen Wegs, weiß er seine heutige Situation zu schätzen.
Neulich hat Becker einen alten Kommilitonen aus seiner Zeit in Brandenburg wiedergetroffen. Der Studienfreund ist mittlerweile bei einem Forschungsinstitut angestellt und hat von seinem üppigen Gehalt erzählt. Ob er gerne tauschen würde?
Der Handwerker denkt kurz nach, dann blickt er auf das Durcheinander in seiner kleinen Werkstatt, fährt sich durch den Bart und lacht zufrieden. „Als Ingenieur würde ich heute viel mehr verdienen und hätte kein persönliches Risiko mehr. Auch wären mir viele Rückschläge erspart geblieben", sagt er. „Aber die Freiheit, als mein eigener Chef genau das zu tun, was ich möchte, will ich nie wieder hergeben."