
„Schön künstlich klingender Halleffekt" - Ralv Milberg, wo er sich am wohlsten fühlt: inmitten seiner alten, analogen Geräte in seinem Heslacher StudioFoto: Lichtgut/Leif Piechowski
Stuttgart - Ende Juli 2013 nimmt der Tontechniker Ralv Milberg, frisch von seiner Hochzeitsreise zurück, in seinem Heslacher Hinterhofstudio mit den Stuttgarter Bands Human Abfall und Die Nerven neue Alben auf. „Tanztee von unten", heißt das eine Werk, „Fun" das andere. Während der Aufnahmen lebt Max Rieger, der Sänger und Gitarrist von Die Nerven in Milbergs Hinterhof, Rieger ist kurz zuvor aus seiner WG geflogen. Weil es unerträglich heiß ist, spielen die Musiker ihre Platten fast nackt ein. Am Ende der Sessions kollabiert Milberg. Stundenlang liegt er bewusstlos im Flur.
Auf der Die-Nerven-Facebook-Seite finden sich dokumentarische Schwarz-Weiß-Bilder aus jenen Tagen. „Und so standen wir da, kaum noch Unterwäsche am Leib, und spielten und stritten und weinten und lachten und wären fast verzweifelt", schreibt die Band dazu. Ralv Milberg erzählt, dass man damals im Platzregen geduscht und dass er für die Produktion fast kein Geld bekommen habe. „Es war ein Gang durch die Hölle", sagt er.
„Fun", das von der deutschen Popkritik meistgefeierte Album des Jahres 2014, war ein Freundschaftsdienst und entstand innerhalb von nur acht Tagen. Es tauchte in den Jahresbestenlisten etlicher Musikmagazine auf. „Schwachstellen gibt es auf diesem Album nicht, dafür blaue Flecken, die niemals heilen", schrieb „Spiegel-Online" - und vergaß, Ralv Milberg zu erwähnen, der aus dieser Band erst den Sound herausgeholt hat, der beim Publikum solche blauen Flecken verursacht: rau, kompromisslos, mitten in die Fresse.
Die Nerven, Human Abfall und andere Bands aus der Region Stuttgart haben eine neue Welle harter, von lauten Gitarren und provokanten Texten dominierter Popmusik ausgelöst. Diese Musik ist Ausdruck einer jungen Generation zwischen Wut und Lethargie in der schwäbischen Metropole Stuttgart, wo zwar reichlich Geld vorhanden ist, genügend Platz für Kreativität hingegen nicht - jedenfalls nicht aus Sicht der Subkultur.
Diese Wahrnehmung beschränkt sich nicht nur auf Stuttgart: Bands wie Die Wirklichkeit aus Solingen, Friends of Gas aus München oder Messer aus Münster vermitteln dasselbe triste Lebensgefühl. Und Tocotronic aus Hamburg, seit den 90er Jahren die deutsche Vorzeige-Independent-Band schlechthin, gibt sich im Video zum Song „Angst" als Die Nerven aus und tritt in einem eichegetäfelten Jugendhaus auf - eine Hommage der norddeutschen Etablierten an die südwestdeutschen Newcomer.
In der Möhringer Straße 83a war einst eine Dreherei untergebracht, später wurden hier Pornos gedreht. Nun beherbergen die 80 Jahre alten flachen Gebäude, die um einen engen Hof herum angeordnet sind, unter anderem die Milberg Studios. Im Erdgeschoss sind zwei Aufnahmeräume, das Obergeschoss ist bis unter das Dach voll mit Equipment: Bass- und Gitarrenverstärkern, analogen Effektgeräten, einem in seine Einzelteile zerlegten Schlagzeug.
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