Mit dem Jahr 1942 verbinden wir Krieg, Deportationen, Luftangriffe oder Mangelwirtschaft. Doch wir wissen fast nichts über den Alltag der Menschen in dieser Zeit. Was haben sie gegessen, angezogen, im Radio gehört? Wo haben sie eingekauft, wie haben sie ihre Freizeit verbracht? Haben sie trotz Krieg und Naziherrschaft ein halbwegs „normales“ Leben geführt? Nicht zuletzt: Wie sah eine Stadt wie Stuttgart aus, ehe die alliierten Luftangriffe den Großteil der Innenstadt sowie etliche Außenbezirke zerstörten?
Unser Projekt „Stuttgart 1942“ beleuchtet auf exemplarische Weise den Alltag in einer deutschen Großstadt im Jahr 1942. Es basiert auf einem deutschlandweit einzigartigen Bilderbestand von 12.000 Straßenansichten im Stadtarchiv Stuttgart, die im Auftrag der Stadtverwaltung systematisch vom (noch) unzerstörten Stuttgart erstellt wurden – eine Art „Street View“, das die Stuttgarter Straßen fast lückenlos abbildet und zahllose zufällig eingefangene Alltagsszenen beinhaltet.
Die Fotos bilden den Kern des Projekts. Sie waren bislang auf Schreibmaschinenlisten aus 1942 verzeichnet und nur sehr mühsam nutzbar. Daher haben wir mithilfe von KI-Technologien wie Machine Learning eine nutzerfreundliche Bilder-Datenbank erstellt. Unsere Leser:innen können den gesamten Bestand nach Straßennamen durchsuchen und sich im Stile von „Street View“ durch fast alle Stuttgarter Straßen des Jahres 1942 bewegen.
Unser Projekt macht die 12.000 Bilder für unsere Leser:innen individuell nutzbar. Sie sind zudem der Ausgangspunkt für unsere Recherchen. Im Sinne der „Visual History“ haben wir unsere Fragestellungen anhand der Bilder entwickelt: was sieht man auf den Bildern, was nicht – und warum?
Mehr als 100 redaktionelle Beiträge wurden im Rahmen des Projekts erstellt. Porträts von Zeitzeugen erzählen von den ersten schweren Luftangriffen, vom erlöschenden jüdischen Leben und dem Kampf gegen kriegsbedingten Nahrungsmangel. Weitere Themen sind u.a. Gastronomie, Verkehr und Werbung, Kino und Musik, Müllabfuhr und Kinderbetreuung, aber auch die kaum sichtbare Beflaggung sowie das Autofahren in der Autostadt Stuttgart. Darüber hinaus haben wir Gastbeiträge von Historiker:innen unter anderem zu Wert und Wahrnehmung der Bilder veröffentlicht und eine Chronik des Jahres 1942 in Stuttgart erstellt.
1942 ist in Stuttgart vieles gekippt: Die letzten Juden wurden deportiert, erstmals kamen Tausende osteuropäische Zwangsarbeiter in die Stadt und anders als in den ersten Kriegsjahren herrschte 1942 monatelang Mangel an vielen Gütern des täglichen Bedarfs. Mit einem kaum kommunizierten Beschluss erweiterte Stuttgart sein Stadtgebiet per Eingemeindung der noch stark ländlich geprägten südlichen Gemeinden erheblich. Bunker prägten seit diesem Jahr das Stadtbild und es gab die ersten schweren Luftangriffe: ein, so der Stuttgarter Stadtarchivdirektor, „Jahr der Eskalation“.
Neben „klassisch“ präsentierten Geschichten zeigen Online-Spaziergänge durch bekannte Stuttgarter Straßen, wie stark sich das Stadtbild in den vergangenen 80 Jahren verändert hat. Eine
Multimediareportage vergleicht die wichtigste Einkaufsstraße Stuttgarts, die Königstraße, im Jahr 1942 mit dem heutigen Zustand. Darüber hinaus haben wir etliche Bilder mittels Machine Learning eingefärbt, darunter Wunschmotive unserer Leser:innen.
Ein weiterer zentraler Baustein des Projekts sind Hunderte Rückmeldungen von Leser:innen, die wir ebenfalls teilweise veröffentlicht haben. Mit „Stuttgart 1942“ kommt die letzte noch lebende Augenzeugengeneration zu Wort, die damaligen Kinder und Jugendlichen. Zudem haben wir an zwei Aktionstagen Leser:innen aufgerufen, Alltagsgegenstände von 1942 aus Familienbeständen zu präsentieren und dieses Jahr im Wortsinne begreifbar zu machen.
Die Recherchen wurden stets historisch eingeordnet, auch im Hinblick auf den unter den Bedingungen der Naziherrschaft entstandenen Fotobestand. Hierfür war das Stadtarchiv unser Hauptansprechpartner, dazu Historiker:innen aus dem ganzen Bundesgebiet. Somit dokumentiert „Stuttgart 1942“ auch einen bislang kaum bekannten Teil deutscher Alltagsgeschichte.
Impact
In vielen Hundert Zuschriften schilderten Leser:innen Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in einer Stadt, die es heute nicht mehr gibt. Etliche Zuschriften haben wir veröffentlicht, teilweise auch in sehr ausführlicher Form. Durch den fotozentrierten Zugang haben wir darüber hinaus jüngere Zielgruppen erreicht, die sich intensiv mit einzelnen Gebäuden auseinandergesetzt haben.
Die Serie hat Menschen zusammengebracht. Infolge der Berichterstattung fanden sich zahlreiche Jugendfreund:innen wieder, die heute unter anderem in Südafrika und den USA leben. Eine Matinee im August versammelte unter Corona-Bedingungen 200 Interessierte.
Infolge unserer Leseraktion zu den Erinnerungsstücken aus 1942 wurden zahlreiche Schriftstücke und Dokumente ans Stadtarchiv übergeben, die dort Lücken in den Beständen schließen. Das Projekt hat eine kommunalpolitische Debatte zur Erinnerungskultur angestoßen, die auch den (bereits 1942 geplanten und mit den Straßenansichten vorbereiteten) Umbau Stuttgarts zur „autogerechten Stadt“ nach Kriegsende thematisiert.
Mit der Serie haben wir Tausende Digitalabonnenten gewonnen. Zudem erschien im November ein 120-seitiges Fotomagazin, dessen erste Auflage (10.000 Stück) noch vor Weihnachten ausverkauft war. Somit ist „Stuttgart 1942“ ein Zeichen für qualitativ hochwertigen und technisch fortschrittlichen Lokaljournalismus – und das Porträt einer deutschen Großstadt in dem „Jahr der Eskalation“ zwischen vermeintlich normalem Alltag und immer näher rückenden Kriegsgräueln.
Zum Original