Würde Albert Einstein noch leben – er wäre garantiert bei Facebook. So digitalisieren Forscher nachträglich die Timeline der Genies.
Alles beginnt mit der Geburtsurkunde. Sie trägt die Nummer 224 und wurde am 15. März 1879 in Ulm ausgestellt. Das erste Dokument mit dem Namen Albert Einsteins. Die folgenden Papiere, die seinen Namen tragen, werden die Physik, ja unser Weltbild revolutionieren. Und diese Revolution kann jedermann nacherleben: Einsteins Leben ist zu großen Teilen im Internet zugänglich - nachträglich digitalisiert.
Über 2000 hochauflösende Bilder dokumentieren dort Einsteins Aufzeichnungen und Veröffentlichungen. Mehr wüsste man auch nicht, wenn das Physikgenie Facebook genutzt hätte, Mailinglisten und Twitter. Heute tauschen sich Forscher digital aus, oft in wissenschaftlichen Netzwerken wie Researchgate. Dadurch lässt sich der Werdegang ihrer Entdeckungen digital nachvollziehen. Während wir also unser Leben in den sozialen Netzwerken verdaten, digitalisieren Wissenschaftshistoriker das Leben der großen Denker.
Und das ist gar nicht so leicht. Viele der großen Forscher waren Vielschreiber. Die Bibliothek der renommierten Universität im englischen Cambridge digitalisiert den Nachlass Isaac Newtons. Über 6,4 Millionen Wörter, viele handschriftlich, sind bisher transkribiert.
Mammutprojekt DigitalisierungDie Frankfurter Universitätsbibliothek digitalisierte 250 000 Seiten von Max Horkheimer, an der Universität Bonn wiederum wurde der Philosoph Immanuel Kant digitalisiert, und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften verdatete 200 000 Blatt Nachlass von Gottfried Wilhelm Leibniz. Im Internet erwachen die Geistesgrößen für praktisch jedermann aus den Dokumenten zum Leben.
Keiner der führenden Denker ist so umfassend digitalisiert wie Einstein. Nahezu jeder Redeentwurf, jedes Dokument, jeder Brief - kaum ein von Einsteins Hand veredelter Fetzen Papier ist dem Vergessen anheimgefallen. Wer darin liest, gewinnt ein vielschichtiges Bild des großen Physikers.
Leicht war Einsteins Lebensweg nicht. Pauline und Hermann Einstein, seine Eltern, hatten Sorgen. Der Sohn lernte nur langsam sprechen. Regelmäßig bekam er Wutanfälle, dann schlug er seine kleinere Schwester Maja, die er doch eigentlich sehr liebte. Mit Autoritäten, vor allem Lehrern hatte er Probleme. Das zweite bedeutende Dokument ist Einsteins Abiturzeugnis von 1896. Das Zeugnis räumt mit dem hartnäckig sich haltenden Mythos auf, Einstein sei schlecht in Mathematik gewesen.
20 Jahre Recherche und ForschungEr glänzte in Algebra, Geometrie und Physik, aber auch in Geschichte. Im März 1899 bekam er einen Verweis wegen "Unfleiß im Physikpraktikum". Seine einzige Kommilitonin am Polytechnikum war Mileva Maric. Ihre Leidenschaft für Physik bewunderte Einstein. Sie wurde nicht nur seine Geliebte und spätere Ehefrau, sondern auch der intellektuelle Gegenpart für seine ersten Ideen. Auch von der Frau an Einsteins Seite gewinnt man dank der digitalisierten Dokumente, etwa aus Postkarten und Gedichten, ein vielschichtiges Bild.
Jürgen Renn ist einer der Urheber der Idee, das Einstein-Archiv in verlinkten Hypertext umzuwandeln. "30 Jahre ist das jetzt her", erinnert er sich. Heute ist Renn Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und einer der profiliertesten Einstein-Experten. In den Achtzigerjahren, das Internet war noch nicht erfunden, entwickelte Renn in Boston die Idee, die Dokumentensammlung zu verlinken.
Doch es brauchte weitere 20 Jahre Recherche, Forschung und Verhandlungen, bis das Archiv als Gemeinschaftsprojekt der Hebrew University of Jerusalem und des California Institute of Technology ans Netz gehen konnte. Heute ist es ein Vorbild für andere Nachlässe.
Einstein begann im Patentamt Bern zu arbeiten. Sein Problem: Er hatte die Vision, die Physik voranzubringen, doch keine Universität erkannte sein Potential und ließ ihn wenigstens eine Doktorarbeit schreiben. Heute hätte Einstein, um seine Ideen öffentlich zu machen, wahrscheinlich Videos auf Youtube gepostet oder für seine Theorien eine Facebook-Seite angelegt.
Damals begann er Briefwechsel mit anderen Wissenschaftlern, die die Entstehung seiner revolutionären Gedanken für die Nachwelt festhalten sollten. Einstein-Experte Renn sagt: "Er hatte ein umfassendes Netzwerk. Er stand in der Mitte. Und hat gleichzeitig an den Grundbegriffen von Raum und Zeit gewerkelt."
Heute gilt vor allem das Jahr 1905 als Einsteins "Wunderjahr". Einstein legte vier Arbeiten vor. Sie waren ganz unterschiedlich und doch rüttelten sie an den Festen der Physik. Die erste war die Schrift zu den energetischen Eigenschaften von Licht und Strahlung. In seinem zweiten Aufsatz widmete er sich der Größe von einzelnen Atomen und wie man diese bestimmen könnte. Sein dritter Aufsatz versuchte eine Erklärung von winzigen Teilchen in Flüssigkeiten.
Einsteins "Wunderjahr"Und dann gab es da noch ein viertes Dokument. In diesem beschäftigte Einstein sich mit Körpern in Bewegung. Einstein beschrieb es, als sei es eher unwichtig. Und doch stellte die Arbeit die Annahmen über Raum und Zeit auf den Kopf. Entwickelt hatte sie Einstein nicht mit aufwendigen Laborexperimenten - sondern mit Aufbauten, die er in seinem Kopf unternommen hatte. Gedankenexperimenten.
Dieses vierte Dokument ist die Grundlage der speziellen Relativitätstheorie. Als dieser Artikel am 28. September 1905 in den "Annalen der Physik" erscheint, ist Einstein in Gedanken längst weiter. Er hat der Redaktion eine Ergänzung geschickt, in der Einstein selbst die berühmte Formel schrieb: e = mc². Historiker, die früher in die Archive hinabsteigen und auf verschiedenen Kontinenten nach Spuren suchen mussten, können die Dokumente heute online durchsuchen.
Spuren der verlorenen TochterEinsteins Ideen werden viral. Einstein bekommt viele Zuschriften von Kollegen. Auch diese Dokumente ändern das populäre Bild des herausragenden, aber auch abgeschotteten Einzelgängers. Im Jahr 1902 wird Einsteins erste Tochter geboren: Lieserl. Einstein lebt zu dieser Zeit in Bern, seine Geliebte Mileva bei ihren Eltern in Novi Sad. Sie halten die Existenz der unehelichen Tochter geheim. Was ist aus ihr geworden?
In einer Notiz nach einem Museumsbesuch, nicht länger als ein Tweet, fanden Jürgen Renn und Diana Buchwald einen Hinweis auf die verlorene Tochter. Den kryptischen Hinweis "J. Mäd (Ölgm?) gekr. H. // meines tot" entschlüsselten die Forscher so, dass Einstein im Museum das Ölgemälde eines Mädchens mit gekräuselten Haaren gesehen haben muss und sich davon an seine tote Tochter erinnert fühlte.
Von Jakob Vicari