Die Medizin könnte HIV auslöschen. Schon heute. Doch Homophobie, kulturelle Unterschiede und politische Kampagnen verhindern das, sagt Peter Piot, der erste UNAids-Chef.
ZEIT ONLINE: Herr Piot, das HI-Virus bedroht seit den 1980er Jahren die Menschheit, dank bahnbrechender Therapien muss die Diagnose "HIV-positiv" zwar heute nicht mehr zwangsläufig den Tod durch eine Aidserkrankung bedeuten. Die traurige Wahrheit ist aber auch: Aids ist noch immer mitten unter uns, trotz aller Ziele, die Krankheit zu besiegen.
Peter Piot: Das ist richtig. Aus der Aids-Epidemie ist eine Endemie geworden. Das heißt, dass das Virus heute in den meisten Ländern der Welt heimisch ist. Wir treten aber gerade in eine neue Phase ein, was die Antwort auf Aids angeht. Anfangs haben wir die Augen vor der Epidemie verschlossen. Um die 2000er ist sie dann auf der Agenda der Vereinten Nationen gelandet und in den am schwersten betroffenen Ländern begannen Programme, um die Infizierten zu behandeln. Und jetzt müssen wir am Ball bleiben.
ZEIT ONLINE: Kann das gelingen?
Piot: Wir haben doch schon alles, um Aids zu besiegen: Labortests und Arzneimittel, die die Krankheit ein Leben lang unterdrücken. Von den 38 Millionen Infizierten weltweit bekommen heute fast 20 Millionen antiretrovirale Medikamente. Deshalb ist die Sterblichkeit in den vergangenen zehn Jahren auf die Hälfte gesunken. Das ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
ZEIT ONLINE: Die Vereinten Nationen wollen die Epidemie bis 2030 sogar beenden.
Piot: Ich bin Optimist, aber ich glaube nicht, dass das realistisch ist, auch wenn es gut ist, ehrgeizige Ziele zu haben. Wir dürfen nicht den Eindruck vermitteln, dass alles gut ist. Wir haben immer noch viel zu viele Neuansteckungen pro Jahr. Das Ziel der Vereinten Nationen ist es auch, weltweit auf nur noch eine halbe Million Neuerkrankungen im Jahr 2020 zu kommen. Momentan haben wir aber noch fast zwei Millionen. Das macht 20 Millionen in zehn Jahren. Allein in Südafrika stecken sich jedes Jahr 300.000 Menschen an.
ZEIT ONLINE: Wie lässt sich das ändern?
Piot: Hier geht es nicht nur um medizinische Fragen, sondern auch um praktische Überlegungen: Halten sich die Infizierten an ihren Behandlungsplan? Haben sie überhaupt einen? Kommen sie an ihre Medikamente? Wie sorge ich dafür, dass die Lieferketten nicht unterbrochen werden? Gerade auch in Kriegen oder Bürgerkriegen, die Millionen Menschen betreffen wie in der Demokratischen Republik Kongo. Darüber hinaus leben in Subsahara-Afrika 220 Millionen Menschen zwischen 15 und 25, 2030 werden es 350 Millionen sein. Wir müssen erreichen, dass sich hier möglichst wenige anstecken. Vor allem um junge Frauen im südlichen Afrika, also in Südafrika, Namibia, Swasiland und Simbabwe, mache ich mir Sorgen. Jedes Jahr infizieren sich zwei bis fünf Prozent der Frauen, die Sex haben, neu mit HIV. Wenn sie dreißig sind, ist also jede Dritte infiziert. Dass der Kampf gegen Aids in manchen Ländern so schlecht vorangeht, hat oftmals weniger finanzielle als vielmehr politische Gründe, nicht nur in Afrika.
HIV und Aids
Das human immunodeficiency virus ( HIV) ist ein sogenanntes Retrovirus. Es schreibt sein Erbgut in das Erbgut der Wirtszelle ein und zwingt sie dazu, es zu vervielfältigen. HIV befällt verschiedene Körperzellen, unter anderem wichtige Zellen des Immunsystems wie die Fresszellen (Makrophagen) und die T-Helferzellen, die die Immunantwort koordinieren. In der Folge sterben die T-Helferzellen entweder, weil sich Risse in ihrer Zellwand bilden, wenn sie neue Viruspartikel ins Blut abgeben, sie gehen in den programmierten Zelltod, oder sie werden vom eigenen Immunsystem getötet, weil dieses sie als infiziert erkennt.
Wird die Infektion nicht behandelt, sinkt die Zahl der T-Helferzellen immer weiter, das Immunsystem wird schwächer. Das Endstadium der Immunschwäche ist Aids (Acquired Immunodeficiency Syndrome). Aids ist durch l ebensbedrohliche Infektionen wie Lungenentzündungen mit aggressiven Pilzen, Entzündungen des Gehirns aber auch durch Krebserkrankungen gekennzeichnet.
2016 haben sich in Deutschland ungefähr 3.100 Menschen neu mit dem HI-Virus infiziert (Robert Koch-Institut, 2017). Die Rate an Neuinfektionen bleibt damit seit Jahren konstant. Die meisten Neuinfizierten sind Männer, die mit Männern Sex haben. In den letzten Jahren hat registrierte das Robert-Koch-Institut aber wieder eine Zunahme bei Heterosexuellen und Drogenabhängigen. Insgesamt leben 88.400 Menschen in Deutschland mit dem Virus, geschätzte 12.700 davon wissen nichts davon.
Weltweit hat das HI-Virus seit seinem Auftauchen 35 Millionen Todesfälle verursacht (Weltgesundheitsorganisation, 2017), allein 2016 starben eine Million Menschen. HIV ist damit nach Tuberkulose die tödlichste Infektionskrankheit der Welt. Noch immer stecken sich jedes Jahr 1.8 Millionen Menschen neu mit dem Virus an. Insgesamt gibt es 37 Millionen Infizierte, 25,6 Millionen davon leben in Afrika.
HIV wird übertragen, wenn infektiöse Körperflüssigkeiten, also Blut, Sperma, Scheidenflüssigkeit und der Flüssigkeitsfilm auf der Schleimhaut des Enddarms, mit Wunden oder Schleimhäuten in Berührung kommen. Am häufigsten wird HIV beim ungeschützten Geschlechtsverkehr weitergegeben. Eine besonders große Übertragungsgefahr gibt es, wenn von Spritzen beim Drogenkonsum gemeinsam benutzt werden.
Die hochaktiven antiretrovirale Therapie soll verhindern, dass sich das Virus in den menschlichen Zellen vermehrt. Erfolgreich ist eine Therapie dann, wenn keine Viren mehr im Blut nachweisbar sind. Je weniger Viren im Blut nachweisbar sind, desto geringer ist auch die Gefahr, dass Virus beim Sex zu übertragen. Trotzdem verschwindet das Virus nie ganz, Betroffene müssen lebenslang Medikamente nehmen. Um die Wirksamkeit zu erhöhen und Resistenzen vorzubeugen, werden mehrere mehrere Mittel mit verschiedenen Wirkweisen kombiniert. Sie erhöhen die Lebenserwartung der Infizierten deutlich. Inzwischen werden die HIV-Positive, die die Erkrankung früh erkannt haben und die ihre Medikamente regelmäßig nehmen, fast genau so alt wie HIV-Negative (The Lancet HIV, 2017).
ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das? Haben Sie ein Beispiel?
Piot: In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und Zentralasien, beobachten wir gerade eine Katastrophe: Allein im vergangenen Jahr haben sich dort 200.000 Menschen neu angesteckt. Dort gibt es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer ein großes Alkohol- und Drogenproblem. Die Menschen stecken sich vor allem über verunreinigtes Spritzbesteck mit HIV an. In Westeuropa gibt es überall saubere Nadeln für Drogennutzer und das hat die HIV-Raten massiv gesenkt. Aber in der ehemaligen Sowjetunion ist das politisch nicht akzeptiert. Ich war häufig in Russland und habe versucht, Politiker zu überzeugen. Das ist radikal gescheitert. Dazu kommt, dass schwule Männer diskriminiert werden und kaum Zugang zu Therapien bekommen.
ZEIT ONLINE: Ein Problem also, dass Ärzte nur bedingt lösen können ...
Piot: Absolut. Die Prävention kann nur dann gelingen, wenn wir über das Leben und die Kultur der verschiedenen Menschen nachdenken. Die Sozialwissenschaften wie die Anthropologie werden im Kampf gegen Aids genauso wichtig werden wie die Biomedizin. Wir müssen die Programme noch stärker auf die Menschen zuschneiden. Wenn es darum geht, Diagnostik und Behandlung zu den Patienten zu bringen, macht es einen Riesenunterschied, ob Sie ein schwuler Mann in Russland, der türkischen Provinz oder in Berlin sind.
Zum Original