Sylvia Löhrmann (Grüne), war von 2010 bis 2017 stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. (Foto: dpa)
Rote Linien, Strategien, Saboteure: Die Grüne Sylvia Löhrmann hat einige Sondierungen und Koalitionsverhandlungen miterlebt. Wie solche Gespräche wirklich funktionieren.
Sylvia Löhrmann, 60, war von 2010 bis 2017 stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. Die Grüne war zugleich Bildungsministerin unter Hannelore Kraft (SPD). Sie nahm 2010 und 2012 an den Koalitionsverhandlungen mit der SPD teil, auch nach der Bundestagswahl 2013 war sie bei den (letztlich ergebnislosen) schwarz-grünen Sondierungen dabei.
SZ: Frau Löhrmann, was kann man sich unter Sondierungen vorstellen?Sylvia Löhrmann: In Sondierungen loten die Parteien aus, ob sich eine Grundlage für eine gemeinsame Regierungszeit ergibt. Die Frage ist: Kommt man inhaltlich zueinander und auch menschlich? Man soll sich nicht heiraten, aber man muss eine Art menschliche Tragfähigkeit finden. Das ist ein intensiver Arbeits- und Abwägungsprozess.
Der Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter bezeichnete Sondierungen als ein "Kennenlernen". Kennen sich die Politiker nicht schon längst?Das hängt davon ab, aus welcher Rolle die jeweiligen Parteien kommen. Kommen sie gemeinsam aus der Opposition und wollen jetzt das Land gestalten? Da kennt man sich womöglich schon etwas besser. Bei den Jamaika-Sondierungen kommt nun mit der FDP eine Partei aus der außerparlamentarischen Opposition, CDU und CSU haben regiert, die Grünen kommen aus der parlamentarischen Opposition. Alle müssen erst ein Gespür füreinander entwickeln. Das Wichtigste ist: Wer ein Land gemeinsam regieren will, muss sich aufeinander verlassen können. Die Chemie muss stimmen. Da ist es auch besser, Klarheit zu haben, wo etwas schwierig wird. Denn wenn man den ersten Schritt geht und sich für Koalitionsverhandlungen entscheidet, wird es später schwieriger zu sagen, jetzt geht es doch nicht.
Wie laufen Sondierungen genau ab?In der Regel lädt die stärkste Partei die anderen ein. Bei den Jamaika-Sondierungen gibt es ja erst einmal bilaterale Gespräche, dann die große Runde mit allen Parteien. Im Prozess stellen die Teilnehmer fest, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Und es zeigt sich, bei welchen Themen Schwierigkeiten bestehen. In der Sondierungsphase geht es um das "Ob". Kommen wir überhaupt zusammen? Ist es vertretbar, Koalitionsverhandlungen zu beginnen und über das "Wie" zu sprechen? Die Teilnehmer dürfen sich nichts vormachen. Alles, was man verschwiemelt oder verkleistert, holt einen hinterher wieder ein, wenn es konkreter wird.
Die Jamaika-Sondierungen finden in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin statt. Warum wählen die Parteien einen solchen Ort?Die Parlamentarische Gesellschaft direkt neben dem Reichstag ist für alle Abgeordneten gleichermaßen zugänglich, sie ist ein neutraler Ort. Als wir 2010 in NRW mit der FDP sondierten, war ihr auch die Raumgestaltung ganz wichtig. Wir sollten uns nicht gegenübersitzen, stattdessen saßen wir in einem Dreieck. Das fand ich gut, hat aber am Ende auch nicht geholfen. Wichtig ist, sich über Inhalte zu verständigen, eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln, echtes Vertrauen zu schaffen. Da gibt es immer diese Rituale und Symbole, wann duzt sich wer und Ähnliches. Das ist vordergründig erst einmal gut, aber entscheidend ist ja, dass das Vertrauen eine ganze Legislaturperiode lang trägt.
Woran merken die Unterhändler bei den Sondierungen, ob es "passt", ob sie Koalitionsverhandlungen aufnehmen wollen?Das kann man rational nicht vorhersagen. Man kann natürlich die Körbe mit gemeinsamen Zielen ansehen. Doch hinter allem steht die Frage, traue ich dem Gegenüber. Dass er mich nicht hinterher über den Tisch zieht. Das ist eine Frage der Einschätzung derer, die da sitzen. Zugleich sollten die Unterhändler immer bereit sein, den Tisch zu verlassen, wenn sie merken, es überfordert das Vertrauen, das die Wählerschaft in sie gesetzt hat.
Was passiert nach den Sondierungen?Bei einem Ja zu Koalitionsverhandlungen folgt der zweite Schritt, der ist viel breiter und zugleich viel konkreter. Es werden Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen gebildet. Bei manchen Themen werden Experten einbezogen. Die Einzelergebnisse kommen dann wieder in die Hauptgruppe. Dort wird geschaut, ob sich die Ergebnisse verschiedener Gruppen vielleicht beißen.
Wie bereiten sich die Unterhändler auf die Verhandlungen vor? Werden Szenarien entwickelt, die Verhandlungsmasse definiert, geheime rote Linien gezogen?Koalitionsverhandlungen haben was von einem Fußballspiel. Bundestrainer Jogi Löw guckt sich auch vorher die Kader der anderen Mannschaften an, schaut sich genau an, wie spielen die, wie reagieren die, wenn das und das passiert. Die Mischung aus Strategie und Taktik ist wichtig. Zentral ist natürlich eine gute fachliche Vorbereitung und ein gutes Zusammenspiel. Man analysiert die Programme der anderen. Man versucht schon im Vorfeld herauszufinden, was passt, was gar nicht. Je besser alle wissen, wo die No-gos der anderen liegen und wo ihr Herzblut, desto besser. All das ist abzuwägen.