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Talentsichtung mit Algorithmus

Dustin Böttger sieht Stars, die sonst keiner sieht                                                                   


Dustin Böttger hat das Scouting revolutioniert. Seit Corona sind seine Datenanalysen so gefragt wie nie


Dass Riyad Mahrez mal einer der besten Spieler der Welt wird, konnte Anfang 2014 nun wirklich keiner ahnen. Vermutlich hatte der damals 22 Jahre alte Offensivspieler des französischen Zweitligisten Le Havre AC selbst die Hoffnung auf den ganz großen Durchbruch schon aufgegeben.

Doch zum selben Zeitpunkt steht der Name des schmächtigen Algeriers in einem Büro in Sandhausen ganz oben auf einer Liste von Spielern mit Weltklasse-Potenzial. Die Liste gehört Dustin Böttger, der mit seiner Scoutingfirma „Global Soccer Network“ (GSN) detailreiche Datenanalyse von über 450.000 Fußballspielern auf der ganzen Welt führt.

„Riyad Mahrez hatte nach unseren Einschätzungen ein extrem hohes Potenzial, Weltklasse-Niveau zu erreichen. Aber die Bundesligisten, denen ich diesen Spieler anpries, waren von seinen zwei Saisontoren in der Ligue B nicht besonders beeindruckt. Er wechselte dann für läppische 400.000 Euro zu Leicester City in die Premiere League“, erzählt Böttger.

Der Rest liest sich wie ein kitschiges Drehbuch: Mahrez trug schon in seiner zweiten Saison maßgeblich zur märchenhaften Meisterschaft von Leicester bei, wurde Englands und Afrikas Spieler des Jahres und wechselte schließlich 2018 für fast 70 Millionen Euro zu Manchester City, wo er ebenfalls Meister wurde und noch heute aus der von Weltstars besetzten Stammelf nicht wegzudenken ist.

Heute wird auf Böttger gehört. Mit seiner Datenanalyse arbeitet er inzwischen mit sieben Bundesligisten eng zusammen und seine umfangreichen Spielerbewertungen sind bei europäischen Spitzenklubs wie Paris Saint-Germain, Benfica Lissabon oder Manchester City gefragt.

Die Idee für Global Soccer Network kam ihm 2010, als er selbst noch als klassischer Scout von einem Stadion ins nächste fuhr. "Ich habe an meinen eigenen Analysen gemerkt, dass man sich höchstens auf zwei bis drei Spieler gleichzeitig konzentrieren kann und sich Oberflächlichkeiten wie die Frisur oder die Schuhfarbe unbewusst in die Bewertung einschleichen“, sagt Böttger.

Nach dem Vorbild des US-amerikanischen Bestsellerromans „Moneyball“, indem der Baseball-Coach Billy Beane mithilfe eines computergestützten Statistikverfahrens das ligaweite Scouting revolutionierte, gründete Böttger daher seine eigene Scoutingfirma. GSN lieferte künftig effiziente und objektive Spielerbewertungen, wie sie von Menschenhand nicht zu erschaffen wären.

Sein Erfolgskonzept, das ihn von anderen Datenanbietern aus der Zeit abhob, war es, die schier unendlichen Daten, die der Fußball mittlerweile bereithielt, nicht nur zu sammeln, sondern skeptischen Vereinsbossen verkaufen zu können. 

Die nötige Inspiration dafür fand er in seiner von seinem kanadischen Vater vererbten Leidenschaft für US-Sportarten. „In der Nordamerika sind appetitlich aufbereitete Statistiken ein ganz normaler Teil der Sportberichterstattung. Damit tut man sich hier in Deutschland noch schwer“, sagt Böttger. 

Also erschuf er mit einem Team aus Fußball-Nerds einen leicht verdaulichen und einfach zu vergleichenden Index-Wert, der alle Metriken vereinte, die man sich als Statistik-Freak nur so vorstellen kann. „Unser „GSN-Index“  beinhaltet neben den üblichen Werten wie Laufleistung, Ballaktionen und Torbeteiligungen auch Expected Goals, Expected Assists und das Spielniveau des Gegners. Wir nutzen sogar Social-Media-Daten, um den Charakter des Spielers einzuschätzen", erklärt Böttger.

Außerdem schrieb er mit der Hilfe eines befreundeten Börsenmaklers einen Algorithmus, der voraussagt, welchen "potenzielle GSN-Index" ein Spieler in der Zukunft noch erreichen kann. Diese Informationen gaben den Klubchefs Europas plötzlich die Möglichkeit, den gesuchten Spieler anhand von Daten aus der zweiten brasilianischen Liga oder der ägyptischen Premier League zu finden, ohne Scouts um den Globus zu schicken.

Weil immer mehr europäische Spitzenklubs den Erfolg dieses Scoutingsystems erkennen, haben viele in den vergangenen Jahren ihre eigene Datenabteilung eingeführt. Das prominenteste Beispiel ist der dänische Erstligist FC Midtjylland, der mittels statistischer Analyse des Transfermarkts drei Meistertitel feierte.

Im vergangenen halben Jahr sind die Anfragen an GSN noch mal deutlich gestiegen. „Wir haben von Corona, so blöd es auch klingen mag, extrem profitiert. Seit Vereine ihre Scouts nicht mehr in die Stadien schicken können, sind unsere Daten und Spielerbewertungen so wertvoll wie noch nie“, sagt Böttger.

Die Pandemie wird das Scouting in Europa laut Böttger nachhaltig verändern. „Die Vereine merken spätestens jetzt, wie viel effizienter gearbeitet werden kann, wenn künstliche Intelligenz zumindest die Vorauswahl übernimmt.“ Auf den Scout vor Ort kann man laut Böttger trotzdem nicht komplett verzichten: „Wir arbeiten selber mit der subjektiven Einschätzung von hunderten gut ausgebildeten Scouts zusammen. Die können durch unser System nicht ersetzt werden – aber ergänzt.“

Auf der Jagd nach noch unentdeckten Talenten spielt vor allem der potenzielle GSN-Index eine Rolle. Der Index also, den ein Spieler laut Algorithmus in Zukunft noch erreichen kann. In seltenen Fällen liegen Spieler wie Kilian Mbappe, Luka Jovic oder eben Riyad Mahrez mit ihrem potenziellen GSN-Index schon in jungen Jahren oberhalb von 85 und gelten so bei GSN als potenzielle Weltklassespieler.  

Bleiben Verletzungen aus, ist die Einschätzung der Firma fast gruselig akkurat. Böttger kann dementsprechend jetzt schon verraten, wen man in den kommenden Jahren im Blick behalten sollte: „Luca Netz von Hertha BSC ist erst 17 Jahre alt und einer der vielversprechendsten Spieler unserer Datenbank.“

Sein potenzieller GSN-Index liegt bei 87,39 und erinnert Böttger an den Wert eines mittlerweile 29-jährigen schmächtigen Algeriers: Riyad Mahrez liegt bei 88,32 und ist seit Jahren einer der besten Spieler der Welt. 

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