Seine Entführung erschütterte das Land. 42 Jahre danach erzählt Johannes Erlemann von seiner Gefangenschaft in einer Kiste – und wie sie seine Seele für immer vernarbt hat.
Herr Erlemann, sitzen Sie bequem? Wir haben gelesen, dass Sie nicht mit dem Rücken zur Tür sitzen können.
Ganz so schlimm ist es nicht. Ich empfinde es als Privileg, dass ich nichts aus der Entführung davongetragen habe, was mich im Alltag behindert. Außer die Albträume.
Träumen Sie von der Entführung?
Schlimme Träume, die letzten 40 Jahre fast jede Nacht. Ich schreie mich dann aus dem Schlaf heraus, oder Tati, meine Frau, muss mich wachrütteln. Das hat sich erst in den letzten drei Jahren geändert, erst mit diesem Projekt.
Vor mehr als 40 Jahren wurden Sie als Elfjähriger gekidnappt, in einen Wald verschleppt und an Ketten in einen Verschlag gesperrt. Erst nach zwei Wochen ließ man Sie frei, der Fall schrieb Kriminalgeschichte. Jetzt haben Sie einen Spielfilm dazu produziert.
Ich habe das Thema aus der Nacht in den Tag geholt und mich fast täglich mit meinem Schicksal beschäftigt, gemeinsam mit Veronica Ferres als Produzentin und Regisseur Marc Rothemund. Das Ergebnis ist eine vierteilige Doku-Serie, ein Buch, an dem ich noch schreibe, eine Podcast-Serie – und eben der Spielfilm. Wir haben fast alles an den Originalschauplätzen gedreht. Ich habe den kleinen Cito, der mich spielt, persönlich an das Thema herangeführt. Bei der Freilassungsszene habe ich mich, genau wie damals, fesseln lassen und bin mit ihm minutiös alle Abläufe durchgegangen. Beim Sichten der ersten Takes war ich sprachlos. Als wäre damals eine Kamera mitgelaufen. Ich hätte es nicht gedacht, aber das scheint eine Art Konfrontationstherapie gewesen zu sein: Ich träume nicht mehr.
Sie haben eine sehr öffentliche Form der Aufarbeitung gewählt. Warum?
Für mich als Filmproduzent war das eine Lebensaufgabe, aber das ist nur ein Teil meines Antriebs. Vor zehn Jahren saß ich mit Natascha Kampusch bei "Günther Jauch". Danach erhielt ich mehr als 1000 Briefe von Menschen, die mir von Vorfällen berichteten, die sie ebenfalls traumatisiert hatten. Manche schrieben mir, dass sie das erste Mal seit langer Zeit wieder nach vorn blicken konnten. Niemand kann die Narben auf einer Seele heilen. Aber vielleicht kann ich einen anderen Umgang damit aufzeigen, eine neue Perspektive. Das sehe ich als meine Mission. Um die Kohle geht es mir jedenfalls nicht.
Haben Sie manchmal Sorge, dieses Projekt zu bereuen?
Bereuen nicht. Aber ich frage mich manchmal, ob ich die Schleusen zu weit aufgemacht habe. Ich glaube, ich habe einen kleinen Borderliner in mir. Freunde sagen zu mir: Du hast so ein wunderbares Leben, warum machst du diese Schublade auf? Ich habe die Schublade nicht nur aufgemacht, sondern ich habe sie rausgerissen und sitze wühlend mittendrin. Ich habe etwas angefangen, dessen Ende ich noch nicht kenne. Aber ich würde es bereuen, wenn ich es nicht getan hätte.
Sie wurden am 6. März 1981 entführt. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?
Es war ein grauer, nasskalter Freitag. Nach der Schule radelte ich in die Stadt und ging in ein Spielzeuggeschäft. Auf dem Weg nach Hause habe ich die drei Männer schon aus der Ferne gesehen. Die standen da halt so rum, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Ich freute mich auf das Wochenende und fuhr ihnen unbekümmert entgegen. Dann ging alles sehr schnell: Einer der Männer riss mich vom Rad, ein anderer drückte mir einen Lappen mit Chloroform ins Gesicht. Ich habe mich betäubt gestellt.
Was passierte dann?
Die Männer haben mir den ganzen Kopf mit Klebeband zugeklebt, nur die Nase war noch frei, dann trugen sie mich zu einem Auto und steckten mich in einen Kasten. Der war so groß wie ein Umzugskarton. Ich konnte kaum atmen.
Hatten Sie Todesangst?
Im ersten Augenblick schon. Aber die habe ich schnell hinter mir gelassen. Ich begann an meine Mutter zu denken. Ich wusste, dass sie Angst haben würde, wenn ich nicht heimkäme. Die Entführer informierten sie erst nach vier Tagen, da sind die Ermittler bereits von einem Mord ausgegangen.
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Erschienen in stern 37/2023