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Freiheit! Gleichheit! Sexualität! DAS können wir heute noch von den 68ern lernen

"Liberté, égalité, sexualité" - "Freiheit, Gleichheit, Sexualität", schreiben Studenten auf kleine Zettel, die sie sich gegenseitig zustecken. Vor ihnen sitzt der Dozent und bittet sie, Verse des Gedichts "L`Èternité" vorzulesen, Lyrik des französischen Dichters Rimbaud, die sich mit der universellen Frage nach der Ewigkeit beschäftigt. Diese Szene stammt nicht etwa aus einem Nouvelle-Vague-Film, wie man im ersten Moment beim Anschauen der Schwarz-Weiß-Frequenz vermuten könnte, sondern sie gehört zu den drei Teasern, die den Kampagnen-Film der Pre-Fall-Kollektion 2018 von Gucci ankündigen.

Gedreht hat die Filme Glen Luchford, der uns bereits in früheren Kampagnen, gemeinsam mit Gucci-Kreativdirektor Alessandro Michele, in unterschiedliche Welten entführte. Man denke zum Beispiel an die Gucci-Galaxie der Herbst/Winter-Kampagne 2017/18 oder an die Bilder aus der Berliner U-Bahn, der Frühjahr/Sommer-Kampagne 2016. Dieses Mal geht die Reise ziemlich genau 50 Jahre zurück, in den Pariser Mai 1968. "Dans les rues", also "in den Straßen", heißt die Kampagne von Gucci, die eine Hommage an die Studentenproteste von damals ist. Wirkte die Stimmung in den Teasern noch sehr verträumt, war das lediglich die Ruhe vor dem Sturm. Spätestens der Kampagnenfilm versetzt uns in die wilde und aufbrausende Zeit der 68er-Bewegung, als die Studierenden die Pariser Sorbonne besetzten, gegen das Bildungssystem, den Vietnamkrieg und die hohe Arbeitslosigkeit demonstrierten und die Konsumgesellschaft und deren Materialismus kritisierten.

Das Thema fand nun auch Maria Grazia Chiuri für ihre neue Dior-Kollektion für Herbst/Winter 2018/19 interessant. Bei ihrer Show, die diese Woche in Paris stattfand, fanden sich 68er-Slogans wie "I AM A WOMAN", "WOMEN'S RIGHTS ARE HUMAN RIGHTS" und "SUPPORT THE MINI SKIRT" an den Wänden der temporären Showlocation im Garten des Musée Rodin - es war eine überdimensionale Collage aus Zeitschriftencovern der 60er- und 70er-Jahre. Das ist insbesondere heute, in Zeiten der #metoo-Bewegung, ein schlauer Schachzug, der Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Ihre Show schloss Model Adwoa Aboah, die aufgrund ihres "Gurls Talk"-Engagements auch selbst als Aktivistin bezeichnet werden kann. Modisch ließ sich Chiruri natürlich auch von den 68ern inspirieren: Karierte Anzüge waren genauso Teil ihrer Kollektion wie Patchwork-Miniröcke. Einen Parka gab es natürlich auch (allerdings einen blauen, keinen olivgrünen).

Die schwarz-weißen Fotografien von damals sind heute - wie man sieht - noch immer einflussreich und bekannt. Vor allem die, die das Ausmaß der Proteste zeigen, als sich der Aufstand von der Universität auf die Straßen des Quartier Latin verlagerte. Mehrere tausende Demonstranten erstellten Barrikaden, es kam zu blutigen Straßenschlachten und das ganze Land verfiel in einen wochenlangen Generalstreik. So weit geht der Film von Gucci nicht, er bleibt vor allem an der Universität, zeigt keine gewaltvolle, sondern die romantische und elektrisierende Seite des Protests. Aktzeichnende Models und Models, die auf Tische und Stühle stehen, strecken die Fäuste in die Luft, werfen Flugblätter aus den Fenstern, oder besprühen Fassaden und besetzen Vorlesungsräume. Der Film steht für jugendlichen Optimismus, Idealismus und Leidenschaft.

Doch woher kommt diese Faszination für die Studenten von damals, auch heute noch, ein halbes Jahrhundert später? Die 68er haben sich mit ihren Ansichten und durch ihren Protest gegen die Generation vor ihnen und so auch gegen die bestehenden Gesellschaftsstrukturen gestellt, was zu Umstrukturierungen, unter anderem in der Bildung, bei der Erziehung und zu einem neuen Verhältnis zwischen Männern und Frauen führte - Veränderungen, von denen wir immer noch profitieren. Das Ausmaß der Revolte war zudem einmalig, denn die Proteste wurden zum globalen Phänomen, in Frankreich und Deutschland streikten die jungen Leute genauso wie in den USA, Mexiko oder Spanien. Auch wenn sich die Staatsformen unterschieden, verfolgten die Studenten dasselbe Ziel einer neuen, gesellschaftlichen Ordnung.

Die politischen Ansichten der 68er spiegelten sich auch in deren Lebensstil wieder. Durch Musik und natürlich auch durch Mode, grenzten sie sich vom Establishment ab. Frauen begannen sich zu emanzipieren und näherten sich modisch, zum Beispiel mit neuen Jeans-Modellen oder durch Hosenanzüge, den Männern an. Sie sprachen sich für eine sexuelle Revolution aus und der Mini-Rock, Mary Quant sei dank, wurde Symbol von Selbstbestimmtheit, genauso wie die transparente Bluse, die junge Frauen jetzt ohne BH trugen. Ein Jahr zuvor, 1967, hatte Yves Saint Laurent als erster Designer ein Model in einer schwarzen, transparenten Bluse ohne BH über den Laufsteg geschickt. Jetzt konnten Frauen selbst entscheiden, was sie von ihrem Körper zeigen wollten. Die Männer ließen sich Haare und Bärte wachsen - ein Alptraum für ihre Väter - und kehrten die eigentliche Bedeutung des Parkas um, den sie von der militärischen Standardbekleidung zum Antikriegs-Symbol wandelten.

Heute ist Mode nicht mehr so gesellschaftspolitisch. "Moden kommen und gehen, ohne bei der Jugend zu tieferer Identifikation zu führen. Jugendliche halten gerne Ausschau nach dem ästhetisch Neuen. Das heißt, sie sind offen für neue Styles. Zu existenziell Neuem, lebensphilosophisch Anderem, gesellschaftspolitisch allzu Quergeistigem geht der Mainstream aber eher auf Distanz", erklärt Beate Großegger, Sozialwissenschaftlerin am Institut für Jugendkulturforschung in Wien. Subkulturen, die aus einer politischen Haltung entstehen, gibt es heute nicht mehr. "Das heißt: Kleidung und Outfit haben als Ausdrucksform der Gesellschaftskritik ausgedient. Der heutigen Jugend geht es bei Kleidung, Mode, Style zuallererst um Selbstausdruck, um ein ästhetisches Spiel an und mit sich selbst. Im Vergleich zu früher hat Kleidung eher etwas Unverbindliches", so Großegger. Der Rückblick auf die 68er entstammt also vielleicht auch aus der Sehnsucht nach einer rebellischen und politischeren Jugend.

Genau diese Sehnsucht nach politischen Idealen teilte vor wenigen Jahren Karl Lagerfeld während seiner Frühjahr/Sommer-Kollektion 2015 für Chanel. Mit seiner Schau blickte er, genau wie aktuell Gucci und Dior, auf den Mai 68 zurück und verwandelte den Laufsteg in die Straßen des damaligen Paris. Wir erinnern uns wie zum Schluss die Models, angeführt von einer mit Megaphone ausgestatten Cara Delevingne, die Schau mit Protestschildern beendeten. Sie forderten "Be different", "Free freedom" oder "History is her story". Lagerfeld setzte damals ein Zeichen für den Feminismus und rief zu einer neuen Protestkultur auf, indem er Statements auf Plakate drucken ließ. Wenige Saisons später wanderte das feministische Statement vom Plakat auf die Kleidung - es war Maria Grazia Chiuri mit ihrer Debütkollektion für Dior für Frühjahr/Sommer 2017, die T-Shirts mit dem Aufdruck "We Should All Be Feminists" entwarf.

Gerade innerhalb des letzen Jahres gab es aber auch Proteste, in die bestimmte Kleidungsstücke symbolisch integriert wurden. Aus Reaktion auf Trump entwickelten Krista Suh und Jayna Zweiman den Pussyhat, der von tausenden Frauen während des Women`s March im Januar 2017 getragen wurde und einen Monat später auf dem Cover des Time Magazines zum Symbolbild der Bewegung wurde. Und dieses Jahr drückten Hollywood-Schauspielerinnen durch die Wahl schwarzer Kleider bei den Golden Globes ihre Unterstützung der #metoo-Bewegung und ihren Protest gegen Harvey Weinstein aus. Mode dient heute vielleicht nicht mehr zur gesellschaftlichen Revolution, doch kann man mit ihr Debatten symbolisch unterstreichen.

Und genau zu diesen heutigen Debatten passt Guccis Ruf nach "Liberté, égalité, sexualité" und die neue Dior-Deklaration "WOMEN'S RIGHTS ARE HUMAN RIGHTS" - sie sind nicht nur eine Hommage an die wilde und aufregende Seite der 68er. Sie erinnern uns auch daran, dass die Forderungen von damals heute wieder aktueller sind denn je.

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