In den ersten Bundesländern gehen die Sommerferien langsam zuende. Für alle angehenden Erstklässer bedeutet das: Der Schulanfang steht vor der Tür. Was wäre der große Tag ohne eine Schultüte? Bunt verziert, prall gefüllt und mit Tüllhäubchen und großer Schleife verschlossen, damit auch bloß keine der darin verborgenen Überraschungen herausfällt. Doch wo kommen die Zuckertüten eigentlich her? Zum Beispiel aus Ehrenfriedersdorf im Erzgebirge. Dort befindet sich die älteste noch produzierende und größte deutsche Zuckertütenmanufaktur. Iris Milde hat sie besucht.
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Autorin
Hier werden Schulanfängerträume wahr. In der Produktionshalle der Nestler GmbH Feinkartonagen im erzgebirgischen Ehrenfriedersdorf stapeln sich die Schultüten, bunt verziert mit Eisprinzessinnen, Dinos, Barbies und Einhörnern.
Beck
"Zum Beispiel hier als neutrales Design von diesem Jahr haben wir eine Koalafamilie gemacht. Mal nicht in Rosa, sondern in Mintfarben. Ist sehr gut bei den Mädels angekommen. Ja, bei den Jungs nach wie vor Spiderman sehr beliebt."
Autorin
Christiane Beck steht neben großen Regalen, in denen die zugeschnittenen, bedruckten Folien liegen, die später auf die runden Pappkegel geklebt werden. Christiane Beck ist Designerin und damit für die verschiedenen Motive auf den Zuckertüten verantwortlich.
Beck
"Also im Katalog aktuell sind es 60 plus die kleinen Glückwunschtüten. Also ich würde mal sagen ungefähr hundert. Aber wir haben ja auch Händler und Läden, die nehmen ältere Designs ab. Also produziert werden locker zwei bis dreihundert verschiedene pro Saison."
Autorin
Große, kleine und Mini-Schultüten hat die Firma Nestler Feinkartonagen im Programm. Dazu die passenden Hausaufgabenhefte oder Einladungskarten. Wenn der Schulanfang vorbei ist, werden Pappostereier und Weihnachtskugeln aus Pappe produziert. Aber heißt es nun Schultüre oder Zuckertüte?
Beck
"In Sachsen ist es tatsächlich immer die Zuckertüte, aber der hochdeutsche Sprachgebrauch wäre Schultüte."
Autorin
Zwei Millionen Zucker- oder Schultüten verlassen die Produktionshalle in Ehrenfriedersdorf pro Jahr. Damit ist die Erzgebirger Firma der größte Produzent auf dem deutschen Markt und auch der älteste, sagt Christiane Beck. 1894 wurde die Feinkartonagenfabrik im nahegelegenen Neundorf gegründet.
Beck
"Es wurde als Kartonagenfabrik aufgebaut und tatsächlich ist es mit diesen Eiern, mit diesen Pappschachteln in Eierform gestartet und seit 100 Jahren sind die Schultüten dazugekommen. Also Nestler ist nachweislich die erste Firma, die industriell gefertigte Schultüten produziert hat."
Autorin
In den 50er Jahren übernahm der Vater von Ursula Nestler, der heutigen Chefin, die Firma.
Nestler
"Mein Vater hat daraus eine 120-Mann-Firma gemacht und das in der DDR. Die Ostereier wurden alle exportiert oder waren Bückware in der DDR. Und die Schultüten mussten laut Anweisung des lila Drachen, sprich Margot Honnecker, aber in der DDR bleiben. Denn ohne Schultüte in die Schule zu kommen, das wäre ein Politikum gewesen."
Autorin
Ursula Nestler wuselte schon als Kind bereits gern zwischen den Arbeiterinnen herum. Es war ausgemacht, dass sie einmal den väterlichen Betrieb übernehmen würde. Aber:
Nestler
"Wir wurden 1972 grausam enteignet. Ich selber hatte dummerweise BWL studiert in der DDR, um in die Firma einzutreten. Da stand ich da '73 mit einem Studium der Sozialistischen Betriebswirtschaft und die Firma gab es nicht mehr."
Autorin
Nach der Wende erhielt Ursula Nestler den Betrieb zurück.
Nestler
"Die Gebäude waren Ruinen, die Maschinen waren Schrott. Ich glaube, unser großer Vorteil war meine große Liebe zum Design. Ich habe gleich 1991 bei Disney angerufen. Ich habe vier Jahre gewartet, dann bekam ich die Lizenz."
Autorin
Die Lizenzen sind das A & O im Zuckertütengeschäft. Denn wer die Modemarken, wie Paw Patol oder Frozen nicht im Programm hat, kann schwer auf dem Markt bestehen. 1998 zog die Firma in ein modernes Produktionsgebäude im Gewerbegebiet in Ehrenfriedersdorf, wo die Zuckertüten von circa 70 Angestellten, hauptsächlich Frauen, größtenteils in Handarbeit gefertigt werden.
"Also jetzt kommen wir in den Bereich, wo fast alles von Hand passiert. Also wir sehen, dort zum Beispiel werden auch Schultüten mit Hand gewickelt. 50er Schultüten auf Karton, weil teilweise die Frauen da sogar schneller sind als die Maschine."
Autorin
Am ersten Arbeitsplatz angelt sich Angelika Ulrich einen mit Klebefalz versehenen dreieckigen Pappbogen aus dem Regal und legt ihn um einen Metallkegel, der einen Schlitz an der Seite hat.
Ulrich
"Man steckt die eine Seite der flachen Tüte in eine Form und dreht die Tüte rum und dann der Klebestreifen hält's fest, dass es eine runde Tüte wird."
Autorin
Nach dem Wickeln kleben die Frauen das Bild auf die Zuckertüte. Zum Schluss werden der Tüllverschluss und die Borte am Rand befestigt. Dann kann die Zuckertüte auf die Reise gehen. Die allermeisten bleiben in Deutschland.
Beck
"Weil die Zuckertüte kommt von hier. Unsere Nachbarländer Österreich, Schweiz, da setzt sich das so langsam durch, also die nehmen das noch mit ab. Aber was darüber hinaus geht, die kennen die Tradition so einfach nicht."
Im Lager nebenan stapeln sich Kisten mit Pappostereiern. Denn ab August stehen bei Nestler alle Zeichen wieder auf Ostern. Pappeier sind der zweite große Verkaufsschlager der Nestler GmbH Feinkartonagen. Eine Million Stück gehen pro Jahr in die ganze Welt.
Beck
"Die Schweden mögen Küken und Hühner, möglichst auch sehr naturgetreu gezeichnet, also nicht verniedlicht oder so. Die Italiener mögen am liebsten bunte Muster, also Streifen, Punkte. Und bei den Amerikanern ist es wirklich so: Hasen und am liebsten weiße Hasen."
Autorin
In Deutschland sind nostalgische Motive sehr beliebt. Im Frühjahr, nach zwei Jahren Corona-Pandemie, wurde das Lager der Nestler GmbH Feinkartonagen förmlich leergekauft. Aktuell mache dem Betrieb der Papiermangel zu schaffen.
Beck
"Das ist das, wo wir jetzt wirklich alles vorzuhalten, was geht, nicht, dass es dann am Papier scheitert."
Autorin
Damit auch im nächsten Jahr jeder der knapp 800.000 Erstklässler in Deutschland eine Schul- oder Zuckertüte in den Händen halten kann.
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