Den Namen "Herrnhut" haben Sie sicher schon einmal gehört. Vielleicht kennen Sie die Hernhuter Sterne, die zur Weihnachtszeit aufgehängt werden, oder die Herrnhuter Losungen, kurze Bibelsprüche für jeden Tag. Beides geht auf das Städtchen Herrnhut in Ostsachsen zurück. Dieses wurde von Glaubensflüchtlingen aus Mähren gegründet, die im protestantischen Sachsen eine neue Heimat fanden. Aus dieser kleinen Exulantengruppe entwickelte sich eine ganze Freikirche, die Herrnhuter Brüdergemeine , mit inzwischen über einer Million Mitgliedern auf allen Kontinenten. In diesem Jahr feiert Herrnhut den 300. Jahrestag seit seiner Gründung. Iris Milde nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch eine winzige Stadt mit einer wohl beispiellosen Geschichte.
Fischer
"Von hier oben hat man einen schönen Blick erstmal"
Autorin
Konrad Fischer ist Leiter des Kultur- und Fremdenverkehrsamtes von Herrnhut. Er steht auf einem runden, aus weißen Holzplanken gezimmerten Aussichtstürmchen, keine zehn Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt.
Fischer
"Herrnhut ist wirklich winzig. Wenn man dazu sagt, das ist eine Stadt! Also das Stadtrecht wurde 1929 verliehen, aber von den Abmessungen her ist es tatsächlich überschaubar. Selbst vom Zentrum, vom Zinzendorfplatz, egal in welche Richtung Sie laufen, in fünf, sechs Minuten sind Sie irgendwo auf einem Feld oder im Wald."
Autorin
Von oben erkennt man die rasterartig angelegten Straßenzüge, die zweistöckigen Steinhäuser im sogenannten Herrnhuter Barock mit ihren Mansarddächern, mittendrin die Kirche, ein Zentralbau mit kleinem Dachreiter. Dahinter im Süden die blauen Hügelketten des Zittauer Gebirges an der deutsch-tschechischen Grenze und Richtung Osten der polnische Tagebau Turów.
Fischer
"Das heißt, wir sind von hier eben auch in einer interessanten Region. Das sogenannte Dreiländereck. Wir haben es in beide Nachbarländer vielleicht 15-20 Kilometer entfernt nur. Es ist ein großer, eigentlich historisch zusammenhängender Kulturraum und man kann sogar noch weiter gehen, wenn man hier oben steht und sagt: Das ist Mitteleuropa."
Herrnhut ist eine kleine Stadt mit großer Ausstrahlung. Hier begann ein Experiment, das um die Welt ging. Wie das kam, veranschaulicht eine kleine Ausstellung in der Herrnhuter Kirche. Dort treffe ich den Pfarrer der Brüdergemeine Peter Vogt. Die Geschichte der Brüder-Unität, erzählt er, geht auf den böhmischen Reformator Jan Hus zurück, der sich gegen Misstände in der Kirche auflehnte und dafür 1415 als Ketzer verbrannt wurde. Seine Anhänger teilten sich in die militanten Hussiten und eine Strömung, die Gewalt ablehnte.
Vogt
"Und aus diesem pazifistischen Flügel entwickelte sich eine kleine Gruppe, die sagen, wir wollen wirklich so leben wie die Bergpredigt, wie das Evangelium uns das vorgibt und leben als Schwester und Brüder im Glauben in einer kleinen Gruppe zusammen und daraus entstand dann eine eigene Kirche, das war die Kirche der Böhmischen Brüder."
Autorin
Im katholischen Königtum Böhmen waren deren Mitglieder gezwungen, ihren Glauben im Geheimen zu leben. Anfang des 18. Jahrhunderts begegneten sich zwei Männer: Der Zimmermann Christian David und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Beide hatten die Vision einer christlichen Gemeinschaft, die ihren Glauben frei und nach der reinen Lehre leben konnte. Christian David führte zwei Familien aus Mähren mit dem Verpsprechen nach Sachsen, dass Graf von Zinzendorf die Glaubensflüchtlinge auf seinem Gut in Berthelsdorf, einem Nachbarort des heutigen Herrnhut, aufnehmen werde.
Vogt
"Und
die haben im Prinzip sofort ihre Sachen genommen und sind dann
nachts, heimlich haben sie sich auf den Weg gemacht, und dann kamen
sie irgendwann auf dem Gut von Zinzendorf an. Das war Anfang Juni und
am 17. Juni wurde also hier der erste Baum gefällt und das erste
Haus gebaut und das ist sozusagen der Gründungstag für Herrnhut."
"Der Ort soll unter der Hut des Herrn stehen", erklärte Zinzendorf damals den Namen der neuen Siedlung. In diesem Jahr feiert Herrnhut den 300. Jahrestag seit seiner Gründung, mit einer Festwoche, Sonderausstellungen, Konzerten und natürlich Gottesdiensten. Die finden im frisch restaurierten Kirchensaal statt. Der weiß getünchte Raum ist schlicht, kein Bild hängt an den Wänden. Die weißen Holzbänke sind nicht zum Chor, sondern zur Längsseite hin ausgerichtet. Dort steht als Altar ein einfacher Tisch. Nichts soll ablenken vom Wort Gottes.
Vogt
"Und das andere ist, dass die Herrnhuter Spiritualität, also die Art von Frömmigkeit, sage ich immer, eher eine Ohrenspiritualität ist als eine Augenspiritualiät. Die Herrnhuter waren eher so in sich gekehrt von ihrer Frömmigkeit, da war das gesprochene Wort, aber auch die Musik ganz wichtig."
Gemeinsam mit dem Leiter des Kultur- und Fremdenverkehrsamtes Konrad Fischer verlasse ich die Kirche und stehe nun mitten auf dem Zinzendorfplatz, umringt von seinen herrschaftlichen Gebäuden im Herrnhuter Barock. Eine ungewöhnliche Architektur für ein so kleines Städtchen.
Fischer
"Der Herrnhuter Barock, der hat sich eben in Herrnhut herausgeschält als eine besonders gut erkenntbare Bauweise, die vor allem so über diese Mansarddächer mit den Fenstergauben gut erkennbar ist. Ansonsten eben recht klar und einfach und schlicht gegliedert. Aber doch schon irgendwo bisschen vornehm, bisschen edel. Nicht so sehr viel Zierrat, wie wir den Barock in Dresden besipielsweise kennen. Da ist das hier etwas zurückhaltender Landbarock, sage ich mal."
Autorin
Auch heutzutage werden die Neubauten am Zinzendorfplatz wieder in diesem Stil errichtet. Inzwischen sind fast alle Baulücken geschlossen. Am letzten Kriegstag 1945 hatte ein Großbrand etwa ein Drittel der historischen Bausubstanz zerstört.
Fischer
"Nach allen Berichten, die wir kennen, war es wohl so, dass russische Soldaten den Ort eingenommen hatten und in dem Moment von der Kapitulation Deutschlands und damit von dem Kriegsende erfahren haben und das entsprechend gefeiert haben. Mit dem Ergebnis, dass am ersten Friedensmorgen, am neunten Mai Herrnhut, das Zentrum zumindest, in Flammen stand."
Wir spazieren am herrschaftlichen Zinzendorfpalais vorbei in den dahinterliegenden Barockgarten. An diesen grenzen die Hernhuter Diakonie, ein Seniorenheim, eine Förderschule und ein Wohnheim für Behinderte. Alles soziale Einrichtungen der Herrnhuter Brüder. Für Kinder gibt es einen Abenteuerspielplatz und einen Streichelzoo.
Im nicht minder herrschaftlichen Vogtshof, über dessen Eingang ein Herrnhuter Stern mit blauen und gelben Zacken hängt, befindet sich die zentrale Verwaltung der Brüder-Unität. Das ist die Dachorganisation aller Brüdergemeinden in Deutschland. Dort, im barocken Sitzungssaal, der nicht öffentlich zugänglich ist, werden jedes Jahr Anfang Mai die Herrnhuter Losungen gezogen, kurze Bibelzitate als geistliche Begleiter für jeden Tag. Pfarrerin Benigna Carstens hat schon viele solcher Ziehungen miterlebt.
Carstens
"Zwei Leute, einer zieht die Nummern, der andere liest dann entsprechend die jeweilige Bibelstelle vor, die dazu geordnet ist, in so einem kleinen Buch. Zwei Protokollanten notieren sich das, was gezogen worden ist und das geht den ganzen Vormittag durch ein Jahrgang jeweils, meistens haben wir auch noch einen ökumenischen Gast dabei, weil die Losungen nicht nur inner-brüderisch, sondern wirklich ökumenisch gelesen werden."
Autorin
Die Losungen gehen auf den Gründungsvater der Gemeine zurück. Am 3. Mai 1728 gab Graf von Zinzendorf den Gläubigen in der abendlichen Singstunde einen Bibelspruch mit auf den Weg, erzählt Pfarrer Peter Vogt.
Vogt
"Zunächst als ein Weitersagen von einem Bibelwort für jeden Tag, das mündlich bekannt gegeben wurde. Man konnte darüber reden und sich sozusagen auch erkennen als Mitglied der Gemeinde in Herrnhut, dass man das Losungswort wusste. Und das wurde so am Vorabend bekannt gegeben und am nächsten Tag war es sozusagen gültig und dann gab es wieder ein neues für jeden Tag."
Autorin
Schon drei Jahre später erschien das erste gedruckte Losungsbuch. Heute werden die Losungen in sechzig Sprachen übersetzt. So mancher will in den gelosten Sprüchen einen Fingerzeig Gottes erkennen, weiß Benigna Carstens:
Carstens
"Los, gelostes Wort Gottes, da kann aller möglicher Unsinn auch mit gemacht werden, aber das wollen wir nicht, aber trotzdem dieses meditative, auch im Gebet begleitete Ziehen der Losungen ist uns schon wichtig."
Die Losungen aller Jahrgänge seit 1731 werden im Archiv der Brüder-Unität schräg gegenüber verwahrt. Das Archiv ist ein Eldorado für Wissenschaftler. Denn die Herrnhuter zeichnet eine ausgeprägte Sammel- und Dokumentationsfreude aus, sagt Konrad Fischer mit einem Schmunzeln.
Fischer
"Dass also alles irgendwie aufgeschrieben wird und vieles nochmal aufbewahrt wird. Vielleicht braucht man es ja irgendwann nochmal, aber auch so aus dem Erinnerungsgedanken heraus. Das verschafft uns bis heute eben so reiche Bestände."
Autorin
So sei etwa jedes Mitglied der Brüdergemeine aufgefordert, das eigene Leben auf wenigen Seiten zusammenzufassen.
Fischer
"Dieser Lebenslauf wird dann zum Begräbnis verlesen. Und darüber hinaus werden diese Lebensläufe dann archiviert und es gibt also im Unitäts-Archiv eine Sammlung von mittlerweile mehr als 60 Tausend solcher Lebensläufe."
Wächterin über dieses Gedächtnis der Stadt und der Herrnhuter Brüdergemeine ist Archivarin Claudia Mai. Für Forscher sei das Archiv außerdem ein spannender Fundus, weil bereits 1732, also nur zehn Jahre nach Gründung der Herrnhuter Gemeinde, erste Missionare in die Welt geschickt wurden. Auch deren Briefe und Aufzeichnungen schlummern im Herrnhuter Archiv.
Claudia Mai
"Wir haben also zum Beispiel Menschen hier gehabt, die in Tagebüchern Grönlands nach Klimadaten gesucht haben, die systematisch aufgezeichnet haben, weil sie sagen: Je länger wir zurückgehen können in die Geschichte mit Aufzeichnungen zu Wetter, um so stabiler können Voraussagen in die Zukunft gemacht werden."
Zu Hochzeiten der Herrnhuter Mission verfügte die Unität sogar über eigene Schiffe. In den Gemeinden zu Hause wurde für die sogenannte "Heidenmission" gesammelt. Claudia Mai nimmt eine Schachtel und öffnet sie.
Claudia Mai
"So eine Büchse... Auf jedenfall wurde diese Schachtel auch mal als Missionskasse verwendet. Das steht noch hier drin. Also tatsächlich für Geld."
Autorin
Besonders an der runden, mit roten Blümchen verzierten Dose ist außerdem, dass sie mit Herrnhuter Buntpapier beklebt wurde. Die Herrnhuter Gemeinde übte eine große Anziehungskraft aus und wuchs stetig. Der Bau der Stadt, die Mission, die sozialen Tätigkeiten – all das musste finanziert werden. Die Herrnhuter waren geschickte und fleißige Hadwerker und Geschäftsleute, deren Ruf bis zum russischen Zaren reichte. Die Marke Herrnhut war ein Selbstläufer: Seien es die Zigarillos "Kleine Herrnhuterin", die "Herrnhuter Salbe" oder "Herrnhuter Schränke". Und die Herrnhuter waren erfinderisch.
"Das ist die älteste, mir bekannte Quelle zum Herrnhuter Papier, datiert 1763. Und da steht eben hier: 'Man nimmt zum Beispiel die Scharlachlappen der Scheider, kocht sie, dass sie die Farbe lassen und streicht mit denen Fingern ordentliche Wolken aufs Papier. Wenn Linien dazwischen kommen sollen, so nimmt man dazu hölzeren Formen, die man aus freier Hand auf dem Papier herumzieht.'"
Autorin
Claudia Mai und ihr Mann Christian haben die alte Technik als Hobby wiederbelebt. Christian Mai streicht mit einem Pinsel einen dickflüssigen Kleister auf ein Papier. Von rechts nach links und von oben nach unten. Als nächste Schicht streicht er blaue Schulmalfarbe darüber. Mit einem Kamm aus Pappe kommen erste Muster aufs Papier.
"Dann bringen wir hier Linien jetzt auf. Und ganz typisch: Auf diese Grundstruktur kommen dann diese Schwünge."
Christian Mai zieht mit dem Kamm Wellen in das Liniengitter.
Christian Mai
"Bisher haben wir ja hauptsächlich mit Pinseln und den Pappkämmen gearbeitet. Jetzt waren bei Herrnhuter Papier immer auch die Hände sehr wichtig. Dann hat man hier in diese Freiräume mit der Fingerkuppe sehr schön diese kleinen, Bollerchen genannten Kugeln gemacht."
Autorin
Im Archiv der Brüder-Unität befinden sich unzählige Bücher, die mit den farbenfrohen, reich gemusterten Kleisterpapieren eingeschlagen sind. Sogar Goethe soll in Herrnhuter Papier eingeschlagene Bücher in seiner Bibliothek gehabt haben.
Atmo
rausgehen, laufen, Sternebauen in Schaumanufaktur
Autorin
Im Gegensatz zum Herrnhuter Buntpapier sind die Herrnhuter Sterne heute überall in der Zinzendorfstadt präsent. Die zugehörige Manufaktur ist einer von mehreren Wirtschaftsbetrieben der Brüder-Unität. Besucher können in einer modernen Schauwerkstatt einem Dutzend Frauen beim Formen und Kleben der einzelnen Spitzen zuschauen. Die Zacken müssen nach dem Kauf noch zu einem ganzen Stern zusammengefügt werden, sagt Verkaufsleiter Jens Ruppert, denn das "Sterneln" hat in Herrnhut Tradition.
Ruppert
"Damals war das Sternebauen – und heute wird das eigentlich in der Herrnhuter Brüdergemeinde auch noch so gelebt – 'ne besinnliche Sache zu Weihnachten gewesen."
Autorin
Ursprünglich war der Kassenschlager von Herrnhut eine Schülerarbeit. Aus unterschiedlichen geometrischen Formen sollten die Kinder Sterne basteln. 1897 kamen die ersten Sterne in den Verkauf und zu DDR-Zeiten revanchierte sich so mancher Ostdeutscher für Kaffee und Schokolade aus dem Westen mit Sternen aus Herrnhut.
Ruppert
"Da gab es wahrscheinlich drüben mehr Sterne als bei uns hier."
Autorin
Heute produziert die Manufaktur 800 Tausend Sterne im Jahr. Mit dem Erlös werden die sozialen Tätigkeiten der Brüder-Unität finanziert, wie die Arbeit mit Menschen mit Behinderung.
Konrad Fischer und ich beschließen unseren Rundgang auf dem Gottesacker. Eine schnurgerade Allee führt auf das von über 1000 Linden gesäumte Arreal zu, auf dem aus der Ferne kein einziges Grab zu entdecken ist.
Fischer
"Der Gottesacker selbst ist seit 1730 in Funktion, wird nicht als wieder belegbarer Friedhof genutzt, sondern alle Gräber sind mehr oder weniger auf ewig angelegt, weshalb sich das in der langen Zeit summiert hat auf derzeit gut 6000 Gräber."
Milde
"Aber ich sehe noch viele freie Plätze."
Fischer
"Das sieht nur von hier so aus. Interessanter Effekt, Sie werden gleich sehen, dass Sie sich täuschen. Es sind liegende Platten, liegende Grabsteine, was einfach auch praktischer ist, wenn man die ewige Liegezeit bedenkt. Da hat man nicht die Probleme mit wackelnden, aufrecht stehenden Steinen."
Autorin
Die kleinen Steinplatten sind mit Moos bewachsen. Familiengräber gibt es nicht, es wird der Reihe nach bestattet, denn vor Gott sind alle gleich. Und: Durch den Friedhof verläuft, wie durch den ganzen Ort, eine unsichtbare Grenze. Die Grenze der Geschlechtersymmetrie. So etwa gab es in der Kirche die Schwestern- und die Brüderseite. In der Kirche spielt diese Trennung heute keine Rolle mehr. Auf dem Friedhof schon.
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