Schüller
„Das war ein frühes Konzentrationslager, also wurde bereits im Mai 1933 eingerichtet. Also, für viele überraschend, dass es da schon Konzentrationslager gab. Aber es war sozusagen vorbereitend für das System der späteren Lager.“
Autorin
Anna Schüller steht auf dem Hof der alten Zwirnerei und blinzelt in die Sonne. Im Hauptberuf ist die 27-Jährige Gymnasiallehrerin für Kunst und Geschichte. Im Ehrenamt engagiert sie sich seit ihrer Jugend dafür, dass dieser Ort nicht stillschweigend in Vergessenheit gerät.
Schüller
„Wir sind jetzt auf dem Appellplatz des früheren Konzentrationslagers Sachsenburg, was sich eben von 1933 bis 1937 hier auf dem Gelände befunden hat. Also wir haben hier einerseits die Fabrik, da waren die Häftlinge untergebracht. Und dann haben wir hier die ehemalige Kommandantenvilla, also wo dann die Lagerführer, Kommandanten untergebracht waren.“
Autorin
Im Januar 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht. Schon kurz darauf rollte eine Verhaftungswelle über das Reich, die sich zunächst nicht gegen Juden richtete, sondern gegen die politische Opposition: Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter, Christen, Zeugen Jehovas. Gefängnisse quollen über, man wich auf Turnhallen aus. Und dann kamen die ersten Konzentrationslager.
Musik
Mein Vater wird gesucht,
er kommt nicht mehr nach Haus.
Sie hetzen ihn mit Hunden,
vielleicht ist er gefunden -
und kommt nicht mehr nach Haus.
(Kinderlied von 1935, Interpret: Die Grenzgänger, CD: „Und weil der Mensch ein Mensch ist – Lager, Lieder, Widerstand“)
Atmo
Schlüssel, in Gebäude gehen, Treppe
Autorin
Durch eine massive Holztür mit verglastem Oberlicht betrete ich mit Anna Schüller das Fabrikgebäude. Entlang gelber Wandfliesen steigen wir die breite Treppe nach oben.
Schüller
„Vom Erdgeschoss bis zur 5. Etage reicht diese Fabrik. Im Erdgeschoss war die Wachmannschaft untergebracht. In den oberen Etagen waren die Häftlinge überall untergebracht.“
Autorin
An der Stahltür im ersten Stock hängt ein Emailleschild mit der Aufschrift: „Spulerei“.
Atmo
Tür öffnen
Autorin
Dahinter liegt eine riesige, leere Halle mit niedriger Decke.
Schüller
„Es gibt auch Bilder, wo wir sehen, dass also dreistöckige Holzbetten da stehen. Also ich habe jetzt eine Zahl gefunden, dass es so um die 600 Männer gleichzeitig in einer Etage waren.“
Autorin
Gisela Heiden ist Mitglied der Lagerarbeitsgemeinschaft, einem Verein, in dem sich Angehörige ehemaliger Häftlinge zusammengeschlossen haben. Ihr Großvater Hans Riedel, ein Mitglied der KPD, war zwar nur wenige Wochen in Sachsenburg inhaftiert. Aber die Erfahrungen, die er dort machte, haben ihn nicht mehr los gelassen.
Heiden
„Er war ja mit 26 im sogenannten Sportkommando. Das heißt Männer bis zum 26. Lebensjahr gingen nicht in den Steinbruch, sondern das war Sportkommando. Das heißt also Kniebeuge, Liegestützen, mit Robben über den Schotter mit freiem Oberkörper und lauter solches Zeug. Das mussten die stundenlang tun. Ohne viel zu essen. Und dann zwischendurch Verhöre.“
Autorin
Das KZ Sachsenburg war ein Arbeitslager. Trotzdem waren Folter und Prügel an der Tagesordnung, die auch Todesopfer forderten. Das belegt der Augenzeugenbericht eines Mithäftlings über das Martyrium des Landtagsabgeordneten der SPD und Journalisten Max Sachs.
Zitat Häftling Willy Steinbach
„Das Jauchekommando hatte noch nicht lange mit der Arbeit begonnen, da hatten die SS-Bestien den Genossen Sachs schon in die Abortgrube geworfen. Er wurde dann herausgezogen, vollständig entkleidet und nackt in den Waschraum gebracht. Hier wurde Sachs in die Waschmulde gelegt [...] und mit Schrubbern bearbeitet. Als Sachs nach dieser Behandlung nicht mehr gehen konnte, wurde er an den Füßen gepackt und durch den Tagesraum die Treppe hinunter geschleift, so dass sein Kopf auf jede Stufe aufschlug. […] Kurze Zeit später wurde dann bekanntgegeben, dass Sachs an Herzschlag gestorben sei.“
Musik
Geht auch der Tod uns dauernd zur Seit',
geht es auch drüber und drunter,
braust auch der Wind durch finstere Heid',
uns geht die Sonne nicht unter.
(Interpret: Die Grenzgänger, CD: „Und weil der Mensch ein Mensch ist – Lager, Lieder, Widerstand“)
Autorin
Im deutschen Reich gab es etwa einhundert Frühe Konzentrationslager, ein Fünftel davon allein in Sachsen. Dabei handelte es sich nicht um harmlose, überdimensionierte Haftanstalten. In den frühen KZs wurde das System der Entrechtung, Demütigung und Drangsalierung entwickelt und professionalisiert. Vielleicht berühmtestes Beispiel ist der Lagerleiter von Sachsenburg Karl Otto Koch, der später zum 1. Kommandanten von Buchenwald aufstieg. Um 1937 wurden die bekannten Barackenlager eingeführt. Sachsenburg war damit überholt, die verbliebenen Häftlinge wurden ins neu errichtete Sachsenhausen verlegt.
Musik
Im Walde von Sachsenhausen
ein Barackenlager steht.
Hier warten einige Tausend,
dass die Schutzhaft zuende geht.
(Interpret: Die Grenzgänger, CD: „Und weil der Mensch ein Mensch ist – Lager, Lieder, Widerstand“)
Gisela Heiden
„Es hört ja '37 dort unten nicht auf. Nach dem Konzentrationslager wurde dort wieder eine Zwirnerei errichtet. Dort kamen Zwangsarbeiterinnen. Und Ende '44 war dann Kriegsgefangenenlager für die Amerikaner.“
Autorin
Erzählt Gisela Heiden von der Lagerarbeitsgemeinschaft, die sich seit den 90er Jahren intensiv mit der Aufarbeitung der Geschichte von Sachsenburg befasst. Auch zu DDR-Zeiten wurde die Spinnerei wieder als solche genutzt. Ein engagierter Lehrer hatte eine kleine Gedenkstätte in der Fabrik eingerichtet, die vor allem von Schulklassen besucht wurde. Doch 1993 musste die Fabrik schließen. Als der Vater von Marcel Hett, dem jetzigen Eigentümer, das Gelände von der Treuhand kaufte, habe er nicht gewusst, dass es sich um ein ehemaliges Konzentrationslager handelte.
Hett
„Das ist das einzige in Privathand befindliche KZ in Deutschland, meiner Meinung nach, vielleicht sogar in Europa, das sollte nicht so sein. Es gehört auf jeden Fall in öffentliche Hand, aber dort gibt man sich reserviert, denn einen weiteren Ausgabenposten möchte man natürlich perspektivisch sich nicht schaffen. Es muss politisch gewollt sein.“
Autorin
Daran haperte es lange Zeit. Enrico Hilbert von der Lagerarbeitsgemeinschaft erinnert sich.
Hilbert
„Es wurde als Propaganda der DDR und der SED abgetan, dass dort überhaupt jemals ein KZ bestanden hätte und es war eine sehr schwere und für die damals noch lebenden Häftlinge eine sehr emotionale Zeit. Und es war bis heute ein ziemlich langer Weg, zu sagen, dass das mit uns etwas zu tun hat, mit unserer Demokratie und wie wir mit dieser Geschichte umgehen. Und diese Akzeptanz gibt es mittlerweile.“
Autorin
Das ist das Verdienst der Lagerarbeitsgemeinschaft, aber auch der Initiative Klick, die sich inzwischen in Geschichtswerkstatt Sachsenburg umbenannt hat und die Anna Schüller mit Freunden 2010 gründete. Ihr Ziel war die Jugendarbeit. Junge Leute sollten sich auf kreative Weise mit der Geschichte auseinandersetzen. Doch immer wieder mangelte es an den grundlegendsten Dingen: Toiletten, Strom, Internet.
Schüller
„Und so in den letzten zwei-drei Jahren haben wir versucht, uns immer mehr auch politisch einzubringen. Weil wir gemerkt haben, wir brauchen diese Gedenkstätte, einfach um einen Rahmen zu haben, wo wir mit Jugendlichen arbeiten können.“
Autorin
Und sie sensibilisierten die Öffentlichkeit. Durch Ausstellungen, durch Einbindung der Medien, durch Dialogforen. 2012 war das erste Etappenziel erreicht: Das ehemalige KZ Sachsenburg wurde in das Sächsische Gedenkstättenstiftungsgesetz aufgenommen. Doch dann passierte jahrelang nichts. Eigentümer Marcel Hett hätte sich des unbequemen Denkmals in der Zwischenzeit längst entledigen können. Angebote von Käufern gab es.
Hett
„Zum Beispiel ist ein Saunabetrieb nicht vereinbar mit der Örtlichkeit, wäre äußerst lukrativ, dazu bin ich nicht zu bewegen gewesen.“
Musik
Wir zahlen keine Miete mehr,
wir sind auf der Lichte zu Haus,
und ist die Zelle noch so klein,
wir machen uns gar nichts daraus.
Ein Meter Fünfzig im Quadrat,
wir haben ja wenig Gepäck.
Wenn die Zelle nur 'nen Strohsack hat
und wir werden halbwegs satt,
dann ziehn wir nie wieder weg.
(Interpret: Die Grenzgänger, CD: „Und weil der Mensch ein Mensch ist – Lager, Lieder, Widerstand“)
Atmo
Schritte, Schlüssel, reingehen, Plätschern
Autorin
In einem kleinen, unscheinbaren Häuschen am Fabriktor befindet sich der gefürchtete „Bunker“, vier Arrestzellen, zwei Quadratmeter klein, über Kopfhöhe eine vergitterte Fensterluke. Anna Schüller deutet auf ein paar mit Bleistift in den Putz gekratzte Zeilen.
Schüller
„Da steht also 75 Stockhiebe oder hier sind so Datumsangaben. 30. August, 31. August. Dann 23. September, 24. September und immer so weiter und dahinter die Tage, 25 Tage.“
Autorin
Das Zellengebäude und die ehemalige Kommandantur gleich daneben hat Eigentümer Hett der Stadt Frankenberg gegen Erhaltungsmaßnahmen auf dem Gelände geschenkt, allerdings mit der Auflage, dass dort eine Gedenkstätte entstehen soll. Unter dem wachsenden öffentlichen Druck hat die Stadt Frankenberg, zu der Sachsenburg gehört, 2018 schließlich reagiert. Sie hat Anna Schüller mit der Erarbeitung eines Konzepts für eine Gedenkstätte beauftragt.
Atmo
„Der Vorschlag lautet, der Stadtrat beschließt, die Gedenkstätte Frühes KZ Sachsenburg...“
Autorin
Sitzung des Frankenberger Stadtrats im Juni 2018. Der Stadtrat beschließt einstimmig die Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenburg.
Atmo
„Vielen Dank dafür.“, Beifall-Klopfen
Autorin
Beschlossen wird eine Gedenkstätte in Zellengebäude und Kommandantur. Bürgermeister der Stadt Frankenberg Thomas Firmenich von der CDU begründet den Beschluss so:
Firmenich
„Eine größere Variante, also mit Zwirnerei auf der gegenüberliegenden Seite oder gar der Kommandantenvilla war so auch bisher nicht konkret ins Auge gefasst. Wir haben uns darauf verständigt: Qualität lieber als das ewig riesig zu machen, wo man dann befürchten muss dass wir vielleicht überfordert sind und wir auch finanziell nicht zurecht kommen.“
Schüller
„Also ein Gefühl ist einerseits, dass ich mich freue, dass es jetzt vorangeht. Das ist ein Riesenschritt, dass jetzt die Gedenkstätte entsteht. Andererseits bin ich auch ein bisschen traurig, dass ja sich die Stadt hier auch Dinge verschenkt, aus meiner Sicht.“
Autorin
Sagt Anna Schüller nach dem Stadtratsbeschluss. Die Spinnerei, in der sich die riesigen Schlafsäle befanden, könnte ihrer Meinung nach wunderbar für Ausstellungen und politische Bildung genutzt werden. Das wird in dem engen Zellengebäude und der Kommandantur schwerlich möglich sein. Größere Wellen schlägt in den Folgemonaten aber der geplante Abriss der ehemaligen Kommandantenvilla. Das einst prachtvolle Gebäude im Stil des Historismus ist heute ein Bild des Jammers. Bürgermeister Firmenich:
Firmenich
„Das Gebäude ist in einem so bedauerlichen Zustand, dass es nicht gehalten werden kann. Wir haben einen Abrissantrag gestellt, der zwischenzeitlich auch genehmigt ist.“
Autorin
Daraufhin liefen engagierte Bürger, Wissenschaftler und Prominente Sturm gegen den Abriss. Am Ende hat wohl weniger der öffentliche Aufschrei die Entscheidungsträger zum Umdenken bewegt als die Ablehnung des ersten Förderantrags auf die Einrichtung einer Gedenkstätte beim Bundesministerium für Kultur und Medien. Ein wesentlicher Kritikpunkt waren die Abrisspläne für die ehemalige Kommandantenvilla.
Firmenich
„Wenn wir die Kommandantenvilla so nicht erhalten können, wie sie heute dort steht, dann wollen wir aber dennoch die Botschaften, die sie sendet, das wollen wir in jedem Falle aber wieder haben. Und deswegen haben wir im Stadtrat beschlossen, einen Ideenwettbewerb auszuloben, international, wo Architekten, Künstler, Fachleute, Ingenieure, Landschaftsarchitekten uns sagen sollen, wie wir mit diesem Problem umgehen.“
Autorin
Verkündet Bürgermeister Thomas Firmenich überraschend im Sommer 2020.
Atmo
Sachsenburg, Wasser, Schritte
Autorin
Im Juli dieses Jahres spaziere ich wieder mit Anna Schüller über das ehemalige Fabrikgelände von Sachsenburg. In der Flussaue blühen Mädesüß und Weidenröschen, vor einem restaurierten Fachwerkhäuschen zupfen Schwäne grünes Gras. Eine liebliche Szenerie, in die sich die graue Fabrik willig einfügt. Ein paar Wanderer erkunden das Gelände, bleiben ab und an vor einer Informationsstele stehen.
Anna Schüller
„Der Pfad der Erinnerung ist im letzten Jahr eröffnet worden. Also wir stehen jetzt hier, wo sich das Tor befunden hat. Das ist ein kurzer Text, was das für eine Bedeutung und Funktion hatte. Und dann ist auf jeder Tafel auch ein Zeitzeugenbericht zu dem Ort und dann sieht man immer noch historische Fotos. Die sind zum Teil eben aus dem Album von Karl Otto Koch, dem Kommandanten von Sachsenburg. Sodass man eben das ganze Gelände erstmal von außen sich selbst erschließen kann.“
Atmo
Baugeräusche
Autorin
Aus der Fischerschänke vor dem Fabriktor dringen Baugeräusche. Da ein neuer Antrag beim Bund erst 2021 eingereicht werden kann und bis zur Entstehung der eigentlichen Gedenkstätte wohl noch Jahre vergehen werden, hat sich die Stadt eine Zwischenlösung überlegt:
Firmenich
„Wir sind jetzt guter Hoffnung, dass bis Jahresende der Saal dann auch ausgebaut ist und wir dann einen Vorläufer der Gedenkstätte dort errichten können. Wir nennen das ein Informations- und Kommunikationszentrum.“
Autorin
Dessen Konzeption liegt in der Verantwortung eines Historikers, den die Stadt Anfang des Jahres eingestellt hat. Außerdem sollen demnächst ein wissenschaftlicher und ein gesellschaftlicher Beirat gebildet werden, die den Aufbau der Gedenkstätte begleiten. Damit nimmt Frankenberg Kritikern den Wind aus den Segeln, die der Stadt mangelnde Kommunikation mit allen Akteuren vorgeworfen haben. Auch Anna Schüller von der Geschichtswerkstatt Sachsenburg freut sich darüber.
Schüller
„Ja, ich glaube, es geht in die richtige Richtung. Es sind noch ganz viele Schritte zu tun, aber ich glaube, das ist genau der richtige Weg, den man da geht.“
Autorin
Noch gibt es viel Zurückhaltung bei den Frankenberger Bürgern. In Frankenberg möchte man ungern in der Öffentlichkeit als Ort mit dem KZ wahrgenommen werden. Lehrerin Anna Schüller kennt diese Vorbehalte.
Schüller
„Frankenberg muss ja nicht Ort mit KZ sein, sondern mit toller politischer Bildung. Gerade, was jetzt in der Region passiert oder mit der AFD, ist die Antwort darauf: Eine Gedenkstätte ist politische Bildung. Wir setzen uns mit genau diesen Themen auseinander, wir eröffnen Diskussionsräume. Wir sind Frankenberg mit einem tollen Lernort!“
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