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Warum Jugendliche in Russland ihre HIV-Therapie abbrechen | 10.01.2023

Sie brauchen den Medikamentencocktail und wollen ihn dennoch nicht einnehmen: HIV-positive Jugendliche in Russland schwanken zwischen Diskriminierung und Verzweiflung. Hilfe aus dem Ausland ist schwieriger geworden.


"Als wir drei Adoptivkinder zwischen sieben und acht Jahren alt waren, sagte uns unsere Adoptivmutter, es gebe zwei Geheimnisse. Das erste sei, dass wir adoptiert sind. Das zweite wollte sie uns erst erzählen, wenn wir groß sind", erinnert sich Marina Nikitina.

Das zweite Geheimnis war die HIV-Infektion. "Bis zum siebten Lebensjahr bekamen wir dreimal täglich einen bitteren Sirup und fünf bis sechs Tabletten. Später gab es dann die Möglichkeit, nur noch eine Pille pro Tag einzunehmen", erzählt sie.

Die 18-Jährigeaus der russischen Stadt Kasan gehört zu den mehr als 10.000 Jugendlichen im Alter von 15 bis 20 Jahren in Russland, die im Mutterleib mit HIV infiziert wurden. Ihre leibliche Mutter ließ sie nach der Geburt im Krankenhaus zurück. Sie verbrachte vier Jahre in einer Kinderklinik für Infektionskrankheiten.

Kostenlose Therapie

In Russland infizieren sich inzwischen hauptsächlich Erwachsene mit HIV. Der Anteil der Jugendlichen unter allen HIV-Neuinfizierten ist hingegen gesunken. So betrug 2021 die Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen 0,8 Prozent. Dagegen waren 2010 noch 2,2 Prozent aller Neuinfizierten im jugendlichen Alter, im Jahr 2000 sogar 24,7 Prozent.

Im Jahr 2021 wurden in der Russischen Föderation 13.203 Kinder von Müttern mit HIV geboren. Eine Infektion wurde nur bei 146 Säuglingen (1,1 Prozent) nachgewiesen. Auch diese Zahl ist rückläufig, denn Schwangere mit HIV haben Zugang zu kostenlosen Therapien. In Russland werden Menschen mit HIV in regionalen AIDS-Zentren behandelt. Allerdings gibt es dort meistens keine speziellen Programme oder Psychologen, die Jugendlichen helfen.

Marina Nikitina erinnert sich an die belastende Zeit in der Kinderklinik: "Wir wurden dort von allen gemieden. Wir hatten kein normales Geschirr, kein Spielzeug. Wir trugen Schlafanzüge, auf denen auf dem Rücken mit roten Buchstaben ' AIDS' stand. Eines Tages kamen freiwillige Helfer ins Krankenhaus. Unter ihnen war meine spätere Adoptivmutter", so Nikitina.

Als sie 17 Jahre alt war, setzte sie ihre Therapie aus. "In der Schule und Familie kamen viele Probleme zusammen. Mein Vater und mein Bruder begannen zu trinken. Ich hatte ein sehr anstrengendes Jahr und vergaß, die Tabletten zu nehmen. Ich fühlte mich völlig verloren", erinnert sie sich.

Heute hält sie sich wieder an die Therapie: "Ich habe verstanden, dass man bei diesem Medikament nicht pausieren darf. Meine Immunität hatte sich verschlechtert, ich hatte meinen Körper ruiniert. Jetzt muss ich mich wieder aufbauen."

Vor knapp zwei Jahren verliebte sich Marina in ein Mädchen. Dass sie HIV-positiv ist, sagte sie ihr am ersten Tag. Für ihre Freundin sei das kein Problem gewesen, betont Marina: "Ich möchte, dass es allen so geht, dass man gleichberechtigt behandelt wird, wie ein normaler Mensch."

Bittere Pillen

"Jugendliche haben es schwer. Wenn neben der hormonellen Umstellung noch eine HIV-Infektion dazu kommt, erhöht das die psychische Belastung", sagt Jelena Kirjuschina. Sie ist beim UNAIDS-Regionalbüro für Osteuropa und Zentralasien für die Bereiche Gleichstellung und Jugend zuständig.

Es sei problematisch, wenn Jugendliche die Einnahme von Tabletten - meist auch aus einer Art Protesthaltung heraus - unterbrechen. "Die Medikamente müssen jeden Tag streng zu einer bestimmten Uhrzeit eingenommen werden. Es sind große und bittere Pillen", sagt die Expertin.

Ihrer Ansicht nach wäre es besser, wenn Jugendliche, wie in einigen anderen Ländern, eine Injektion erhalten könnten, die über Monate wirkt. Bei manchen Heranwachsenden, so die Fachärztin, verursache die Therapie zudem unangenehme Nebenwirkungen. Andere würden einfach austesten, ob sie sich auch ohne die Tabletten gut fühlen.

Angst vor Ausgrenzung

"Teenager, die HIV-positiv sind, sagen oft, sie wären gerne einfach wie alle anderen. Einige von ihnen sind traurig, deprimiert und sogar lebensmüde", sagt Swetlana Isambajewa, Psychologin aus Kasan. 2008 gründete sie eine Stiftung, die Frauen und Kindern mit HIV hilft. "Wenn es in der Familie Probleme gibt, sehen wir dies im Blutbild, dann steigt die Viruslast. Ich kenne Fälle, wo Jugendliche keine Medikamente einnehmen wollten und darin einen Weg sahen, aus dem Leben zu scheiden", so Isambajewa.

Anders sei es beim Tod einer 19-Jährigen gewesen, die selbst Aktivistin gewesen war: "Sie verliebte sich und zog mit dem Mann zusammen, verheimlichte ihm aber, dass sie HIV-positiv war, aus Angst, er könnte sie deswegen verlassen", erzählt die Psychologin.v "Sie nahm keine Tabletten mehr, weil sie ihre HIV-Infektion geheim halten wollte, und starb dann an AIDS: "Nach ihrem Tod ging ihr Freund ständig zu ihrem Grab und sagte, wenn er von ihrer Infektion gewusst hätte, hätte er auf einer Behandlung bestanden."

Laut Isambajewa brechen Jugendliche zwischen 14 und 16 mit HIV besonders häufig die Therapie ab. Während Erwachsene aus Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung von ihnen häufig verlangten, die Infektion geheim zu halten, sei bei Kindern und Jugendlichen genau das Gegenteil der Fall.

"Kinder und Jugendlichen mit HIV verstehen oft gar nicht, warum sie schweigen oder sich schämen sollen", sagt die HIV-Aktivistin Jana Kolpakowa, die auf TikTok und Instagram offen damit umgeht, dass sie selbst HIV-positiv ist. "Viele wollen darüber reden, sie schreiben mir. Ich antworte ihnen, aber nicht in einem belehrenden Ton."

Probleme wegen des Krieges

Kolpakowa arbeitet mit der Bewegung "Patientenkontrolle" zusammen, aber auch mit Swetlana Isambajewas AIDS-Stiftung. Zusammen mit anderen Freiwilligen half sie HIV-infizierten Ukrainern, die nach Russland kamen oder nach Russland gebracht wurden, eine Therapie zu erhalten. Und sie besorgte HIV-Medikamente für Russen, die fluchtartig ihr Land verließen.

Ihre Arbeit sei schon immer schwierig gewesen, so Kolpakowa, aber vergangenes Jahr sei es unerträglich geworden. "Man ist ausgebrannt, man kämpft, aber die Beamten wollen einen nicht hören, sie tun nichts zum Wohle von Patienten. Und dann dieser Rückschlag - der Krieg, die repressiven Gesetze, der Entzug von Rechten von LGBT-Menschen."

Anonyme Aktivisten und Freiwillige beklagen, dass es schwieriger und gefährlicher geworden ist, ausländische Gelder für Projekte zu erhalten, da nach russischen Gesetzen die Gefahr besteht, zum "ausländischen Agenten" erklärt zu werden. "Ich kann das einfach nicht mehr mit ansehen und will auch nicht schweigen", sagt Kolpakowa. Im Herbst haben sie und ihre Familie Russland verlassen und in den USA Asyl beantragt. Von dort will sie ihre Arbeit fortsetzen.


Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk Zum Original