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Jugendliche in Russland: "Ich möchte, dass meine Mutter die Wahrheit über den Krieg erfährt"

Sie werden "Generation Putin" genannt. Doch viele junge Russen lehnen den Präsidenten und seine Politik ab. Jetzt versuchen sie, auch ihre Eltern davon zu überzeugen.

Elena*, 21, würde gern gegen den Krieg protestieren. Doch seit sie vor einem Jahr auf einer Demo zur Unterstützung von Alexej Nawalny gesehen habe, wie Polizisten mit Schlagstöcken und Elektroschockern auf Menschen einschlugen, leide sie unter Panikattacken, sagt sie. Sie versucht nun, von ihrem Zuhause in St. Petersburg aus die Proteste gegen Putin zu unterstützen. Sie ruft bei Polizeidienststellen an, um Informationen über inhaftierte Demonstrant:innen zu erhalten, und sucht Anwälte für sie.

Währenddessen schaut ihre Mutter im Zimmer nebenan Nachrichten und Talkshows im staatlichen Fernsehen. Elena sagt: Sie könne das kaum ertragen, wie ihre Mutter der staatlichen Propaganda weiter glaubt. Deshalb sucht sie immer wieder das Gespräch mit ihr. Sie erzählt ihr, dass Kiew wieder bombardiert werde. Sie zeigt ihr Fotos mit den Leichen russischer Soldaten. Doch ihre Mutter antwortet, das sei alles fake. "Meine Mutter glaubt, dass es Faschisten in der Ukraine gäbe und dass Russland alles richtig macht", sagt Elena.

Auch Iwans* Eltern glauben, dass es sich nicht um einen Krieg gegen die Ukraine handle, sondern um eine "Befreiungsoperation". Sie sagen, sollte sich mehr gegen Europa und die Nato wehren. Für Iwan, 19, ist das schmerzhaft, doch seine Eltern hören ihm kaum zu. "Wenn man jahrzehntelang jeden Tag russische Propaganda im Fernsehen sieht, ist es schwer, etwas anderes zu glauben", sagt er.

Alexander*, 29, stritt sich auch schon vor dem Krieg häufig mit seiner Mutter. Er besucht sie einmal in der Woche. Dann kritisiert sie ihn dafür, dass er gut lebe, reisen könne, aber gleichzeitig die Behörden beschimpfe. Sie sagt, er sei undankbar. Er sagt: "Es ist einfacher zu glauben, dass im Land alles in Ordnung ist."

Elena, Iwan und Alexander versuchen, wie andere junge Menschen in Russland ihre Eltern von einer Sache zu überzeugen: Wladimir Putin führt einen echten Krieg gegen die Ukraine, der gestoppt werden muss. Können sie ihre Angehörigen dazu bringen, nicht an Propaganda zu glauben?

Svetlana Yerpyleva beobachtet, wie die Kluft zwischen den Generationen in Russland seit einigen Jahren wächst. Sie ist Soziologin an der Universität Bremen, ihre Forschungsschwerpunkte sind Jugend und politische Sozialisation. Yerpyleva sagt, die Einstellungen der Generationen weichen immer mehr voneinander ab und das betreffe einige Themen: Wie steht man zu Minderheiten, LGBTQ-Personen, Feminismus? Ob man den Wunsch hat, einmal im Ausland zu leben. Oder ob man die Proteste des Regierungskritikers Alexej Nawalny unterstützt. Letzteres zeigen auch Umfragen aus dem Jahr 2020. 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen unterstützen demnach die Proteste, zu denen Nawalny aufgerufen hat. In der Altersgruppe ab 55 Jahren sind es lediglich 16 Prozent.

Die Soziologin erklärt diese Werteunterschiede in erster Linie mit einem anderen Medienkonsum: Junge Menschen in Russland informieren sich vor allem über die sozialen Netzwerke - vor ein paar Jahren war es noch , jetzt sind es vor allem Telegram-Kanäle. Ältere Russinnen und Russen würden sich hingegen hauptsächlich über das Fernsehen informieren.

Generation Putin?

Elena studiert Journalismus und arbeitet als freiberufliche Autorin für die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta in Moskau. Trotzdem glaubt ihre Mutter nicht ihr, sondern dem Fernseher. Sie ist 65 Jahre alt und nutzt das Internet bis auf WhatsApp kaum. Früher arbeitete sie als Friseurin, dann als Putzkraft. Heute bekommt sie 15.000 Rubel Rente im Monat (aktuell sind das ungefähr 125 Euro). "Gleichzeitig unterstützt sie Putin und hält ihn für einen starken Führer", sagt Elena, "Vielleicht ist es für sie einfacher, das zu glauben, als zu verstehen, dass wirklich alles sehr schlecht ist." 

Die Beziehung zu ihrer Mutter belastet das sehr. "Ich möchte meiner Mutter vermitteln, dass wir unser brüderliches Volk angreifen, aber sie leugnet alles und glaubt, dass Leute wie ich Russland ruinieren", sagt Elena. Sie mache das wütend, ihre Mutter auch. "Sie fragt mich, wo ich vor acht Jahren war, als die Kinder von Donbass getötet wurden. Ich antworte ihr: Mama, ich bin zur Schule gegangen." Die Frage nach den Kindern von Donbass ist eines der häufigsten Propagandanarrative in Russland, um den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. 

Menschen, die in den Nullerjahren geboren wurden, werden oft "Putins Generation" genannt. Ähnlich wie in Deutschland die sogenannten Merkel-Kinder sind sie zu einer Zeit aufgewachsen, die stark von Putin geprägt wurde.  

Die Soziologin Yerpyleva findet diesen Begriff jedoch unpassend. "Sie wurden zwar wirklich zu Putins Zeiten geboren, aber sie haben die Neunzigerjahre nicht erlebt. Das war die Zeit der großen Enttäuschung in der Politik." Anfang der Neunzigerjahre beteiligten sich Hunderttausende an Kundgebungen in Moskau: Sie traten gegen den Kommunismus und für die Freiheit ein. Sie wollten Veränderung.  

Doch Macht und Ressourcen gingen vor allem an die Erben der sowjetischen Elite über und die Einwohner:innen Russlands erlebten neben der Demokratisierung eine tiefe Wirtschaftskrise und den wachsenden Einfluss von Oligarchen. "Als große Proteste zu großer Enttäuschung führten, stürzte dies die russische Gesellschaft in einen politischen Schlaf", sagt Yerpyleva. Das Aufwachen begann 2011 mit Massenprotesten gegen Wahlfälschung. Die junge Generation wurde erwachsen in der Zeit einer neuen Politisierung und großer Proteste.

Yerpyleva forscht zu diesen Protesten. Von 2018 bis 2020 befragte sie Demonstrant:innen auch zu der Beziehung zu ihren Eltern. Einige sagten, sie versuchten, ihre Eltern von ihren politischen Ansichten zu überzeugen, dass sie recht hatten, andere vermieden diese Gespräche und versuchten, die Beziehungen innerhalb der Familie aufrechtzuerhalten, und andere hatten Eltern, die ihren Standpunkt teilten. Es gibt noch keine Studien darüber, ob es in der Einstellung zum Krieg in der Ukraine inzwischen einen Generationsunterschied gibt und ob dies zu Konflikten führt. Dafür ist es noch zu früh.

Doch Beiträge in den sozialen Netzwerken in den vergangenen Tagen lassen erahnen, dass sich viele junge Menschen damit identifizieren können. Das regierungskritische Onlinestudierendenmagazin Doxa hat am 27. Februar einen Leitfaden mit Argumenten für Diskussionen über den Krieg veröffentlicht. Kein anderer Post des Magazins erreichte so viele Likes: mehr als 120.000. Die russische Regulierungsbehörde für Massenmedien forderte die Veröffentlichenden sofort auf, diesen Artikel zu entfernen, und blockierte am 28. Februar ihre Website in Russland. 

"Es ist hart für meine Mutter"

Auf WhatsApp tauchen immer mehr Bilder aus feministischen Aktivistinnenkreisen auf, die sich gezielt an ältere Menschen richten. Informationen zum Krieg im Stil von kitschigen digitalen Grußkarten. Zum Beispiel ein weinender Engel, der neben einer Kerze und gelb-blauen Nelken sitzt. Im Hintergrund ist eine Explosion zu sehen. 

Auch auf Twitter diskutieren Jugendliche darüber, wie sie ihre Eltern davon überzeugen können, diesen Krieg nicht zu unterstützen. Sie schlagen zum Beispiel vor, jeden Tag mit ihnen über den Krieg zu sprechen, ihnen Geschichten von ihren Freund:innen aus der Ukraine zu erzählen und die Argumente ihrer Lieblingsstars zu verwenden, wenn diese gegen den Krieg sind.

Die Nachrichten über den Kriegsbeginn haben Iwan fassungslos gemacht. Er konnte es zunächst nicht glauben und fühlt sich noch immer sehr hilflos. Iwan und seine Eltern leben in Woronesch, nur ein paar Autostunden von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt. Seine Mutter arbeitet für eine Regierungsorganisation, sein Vater als Wache in einer Lebensmittelfabrik. Sie sind beide 55 Jahre alt. Iwan lebt allein, besucht sie aber zwei- bis dreimal in der Woche und zeigt ihnen das russische unabhängige Portal Medusa, die Website von der Zeitung Nowaja Gaseta, Fotos und Videos aus Telegram-Kanälen. Und tatsächlich: Sie glauben ihm – zumindest teilweise. Zum Beispiel, dass den russischen Soldaten gesagt wurde, sie würden zu einem Manöver fahren, stattdessen wurden sie in den Krieg geschickt. Darüber berichten einige russische unabhängige Medien, die mit Angehörigen von Soldaten gesprochen haben.  

Iwan sagt, Bekannten seiner Eltern sei etwas Ähnliches passiert. Im letzten Moment sei er doch nicht als Soldat in den Kampf geschickt worden. "Vielleicht hat das meine Eltern überzeugt, obwohl meine Mutter auf fast allen Veranstaltungen auf der Arbeit Propagandareden von der Geschäftsführung hören muss", sagt Iwan. Er möchte unbedingt, dass sie Informationen aus unterschiedlichen Quellen erhalten und verstehen, welche davon glaubwürdig sind.

Alexander erlebte eine Überraschung, als er drei Tage nach dem Überfall Russlands seine Mutter besuchte. Er ist Mathenachhilfelehrer in Moskau, sie ist 62 und war Buchhalterin. Zuerst dachte er noch, dass sie den Krieg in der Ukraine gutheißen würde, weil sie an das glaubt, was im Fernsehen gezeigt wird. Aber als er nach Hause kam, sagte sie zu ihm: "Putin muss einem Kriegsgericht übergeben werden."

"So etwas habe ich noch nie von ihr gehört", sagt Alexander. "Es ist hart für sie, ihr Weltbild ist erschüttert." Früher habe er ihr zum Beispiel von Nawalnys Vergiftung erzählt. Sie hat ihm das alles nicht geglaubt. Alexander sagt, er denke, dass die vielen Diskussionen mit seiner Mutter einen Anteil daran haben, dass sie die politische Lage ein bisschen anders sieht. 

Er will sie unterstützen und ihr helfen, diese Veränderungen zu überstehen: "Ich kann die Armee nicht aufhalten, aber ich kann Verwandte überzeugen oder eine Petition gegen den Krieg unterschreiben", sagt er. Alle seine Freunde würden den Krieg ebenfalls ablehnen, aber nicht viele von ihnen würden auch versuchen, ihre Eltern von der Wahrheit zu überzeugen. 

Iwan will weiter und immer wieder mit seinen Eltern reden: "Nur wenn sie sehen, dass in Russland nicht alles so gut ist, können wir etwas verbessern." Und obwohl Elenas Mutter die Artikel, die sie schreibt, nicht liest, bringt sie trotzdem ab und zu die neueste Ausgabe mit: "Ich möchte, dass meine Mutter die Wahrheit über den Krieg erfährt", sagt sie. 

* Alexander, Elena und Iwan möchten anonym bleiben, um sich und ihre Familien zu schützen. Die Namen sind der Redaktion bekannt.

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