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Proteste in Russland: "Putin glaubt, dass er alles tun darf, bis er stirbt"

In Russland entsteht gerade eine neue Opposition, die nicht nur für Alexej Nawalny kämpft – sondern für ein freies Russland. Vier junge Demonstranten berichten.

In Dutzenden russischen Städten gab es am Wochenende Proteste gegen die Regierung und für die Freilassung von Alexej Nawalny. Mehr als 5.000 Menschen wurden am vergangenen Sonntag festgenommen. So viel wie nie zuvor. Vier junge Demonstranten aus unterschiedlichen Regionen berichten von ihren Erfahrungen.

"Ich fordere nicht nur Freiheit für Nawalny, sondern für ganz Russland"

Sophia, 18, Nowosibirsk, Studentin

Niemand hat es verdient, so behandelt zu werden wie Alexej Nawalny. Zuerst haben sie versucht, ihn zu töten, und als sie das nicht geschafft haben, haben sie ihn eingesperrt. Ich glaube, jedem, der sich gegen die Regierung stellt, könnte das passieren. Aber jetzt geschieht es vor aller Augen. In sagen die meisten Menschen über 30: "So ist eben Putin." Sie halten diesen Zustand für normal. Das finde ich beängstigend.

Ich fordere nicht nur Freiheit für , sondern für ganz Russland. Putin sitzt auf dem Thron und glaubt, dass er alles tun darf, bis er stirbt. Deshalb gehe ich auf die Straße.

Am Sonntag haben noch mehr Menschen an den Protesten teilgenommen als am Wochenende zuvor. Auf einer großen Allee wurde unsere Demo von mehreren Polizeibussen gestoppt. In so einem Fall bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder du rennst weg oder du bleibst stehen und wirst vielleicht verhaftet. Die Polizei nimmt meistens diejenigen, die Flaggen und Plakate tragen, fest. Ich laufe normalerweise weg. Bei den letzten Protesten am 23. Januar ist uns die Polizei hinterhergerannt, aber ich konnte mich rechtzeitig in einem Laden verstecken. Ich habe beobachtet, wie sich ältere Frauen - Babuschkas - schützend vor andere Demonstranten gestellt haben, als die Polizei kam. Aus irgendeinem Grund hat das oft funktioniert und die Person wurde nicht verhaftet.

Eigentlich studiere ich in St. Petersburg. Aber für den Fernunterricht bin ich nach Nowosibirsk zurückgekehrt. Die jungen Leute hier träumen oder planen, nach Sankt-Petersburg oder Moskau zu ziehen. Dort gibt es einfach mehr Möglichkeiten. Obwohl viele meiner Bekannten die Kundgebungen unterstützen, nehmen sie nicht selbst teil. Einige haben Angst. Aber es gibt auch andere, die sagen, sie seien unpolitisch. Das verstehe ich nicht. Bei so einem Präsidenten kann man nicht unpolitisch sein. Unpolitisch sein heißt für mich: Es ist einem egal, in welchem Loch man verrottet.

Ich sage nicht, dass Nawalny Präsident werden sollte. Aber ich bin dafür, dass die Menschen ihre Regierung wählen dürfen, nicht die Regierung sich selbst. In Russland hat man viel Geduld, ich hoffe, dass sich das ändert. Veränderung braucht Zeit und Mühe. Hoffentlich demonstrieren wir jetzt jede Woche und werden nicht müde.

"Es ist einfach dumm, einen Kampf gegen die eigenen Bürger zu führen"

Denis Ibragimov, 24, Tscheljabinsk, Regionalkoordinator der Open Russia – Organisation von Michail Chodorkowski, Student

Die Demonstrationen am Wochenende waren friedlich und spontan. Bei Protesten in den vergangenen Jahren gab es immer Anführer, jetzt organisieren sich die Menschen selbst. Obwohl die Polizei in unserer Stadt zentrale Straßen blockierte, liefen die Demonstranten weiter und suchten sich Umwege. Es sind vor allem die Jungen, die auf die Straßen gehen.  

Die Menschen hier haben es satt, in einem Land zu leben, in dem es keine Perspektiven gibt. Viele junge Menschen wollen weg aus Tscheljabinsk oder ganz das Land verlassen. Sie wollen einen Machtwechsel. Unser Land hat sich in die falsche Richtung entwickelt. Doch die Regierung will alles beibehalten, wie es ist. Dadurch bringt sie die Menschen an den Abgrund. Der Rubelkurs ist viel zu niedrig. Wie kann man von 25.000 Rubel im Monat(umgerechnet etwa 270 Euro, Anm. der Red.) leben? Das ist unmöglich. Ich mache mir große Sorgen um die Umwelt. Die Luft in Tscheljabinsk ist schmutzig, die Leute werden deswegen sehr krank. Trotzdem kann ich es mir nicht vorstellen wegzugehen. Ich halte es für notwendig, Probleme möglichst vor Ort zu lösen.

Ich arbeite für Open Russia, eine Organisation, die sich für Rechtsstaatlichkeit und faire Wahlen einsetzt. Auf meinen Social-Media-Kanälen berichte ich über die Proteste und ich versuche, den Demonstranten zu helfen. Nach der Kundgebung bin ich zum Beispiel zur Polizeistation gegangen, um festgenommenen Demonstranten Anwälte zu besorgen. Früher wollte ich Journalist werden, aber dann kam ich zum Aktivismus und begann, mich in der Stadt zu engagieren. Ich protestierte gegen die Bebauung eines Parks oder organisierte Schutzausrüstung für Ärzte während der Corona-Pandemie.

Die Demonstranten befinden sich derzeit in einer schwierigen Situation: Die ersten Anklagen laufen mit zum Teil absurden Vorwürfen. Die Polizei versucht die Leute so unter Druck zu setzen. Die Behörden befürchten offensichtlich, dass die Lage eskaliert. Aber ich denke, der Staat sollte sich eher um die Ursache der Proteste kümmern: Was ist zum Beispiel mit den Fabriken, die hier die Luft verschmutzen? Die brauchen dringend Reinigungssysteme. Es ist einfach dumm, einen Kampf gegen die eigenen Bürger zu führen.

Ich bin für einen Föderalismus. Es ist falsch, dass alle Steuern in Moskau umverteilt werden. Industrieunternehmen, die hier die Luft verschmutzen, zahlen sehr hohe Steuern, aber das Geld kommt in der Region nicht an. Ich engagiere mich für Meinungsfreiheit und für eine Politik, die auf die Bedürfnisse der Menschen achtet. Es sollten sich auch andere Parteien und Kandidaten zur Wahl stellen lassen dürfen. Politische Konkurrenz ist wichtig. Aber die gibt es nicht. Stattdessen gibt es Politiker, die schon so lange im Parlament sitzen, dass sie verstaubt sind. Trotzdem bin ich mir sicher: Früher oder später wird sich unser Land verändern.

"Ich möchte meinen Schülern ein Vorbild sein"

Anonym, 26, Schullehrer aus der nördlichen Region

Am 23. Januar protestierte ich in meiner Kleinstadt für die Freilassung von Alexej Nawalny. Ich stand ganz alleine auf dem Hauptplatz neben dem Lenin-Denkmal mit meinem Plakat. Ich hatte große Angst. Vorher habe ich mich sehr oft gefragt: "Soll ich wirklich demonstrieren?" Aber die Antwort ist klar. Ich habe viele Gründe. Ich bin für Gerechtigkeit und ich möchte meinen Schülerinnen und Schülern ein Vorbild sein. 

Auf der Arbeit habe ich eine Rüge bekommen. Meine Kollegen haben in den sozialen Netzwerken von meinem Protest erfahren. Bei einem zweiten Verweis werde ich entlassen. Außerdem kam die Polizei zu mir nach Hause und warnte mich, nicht mehr an den Aktionen teilzunehmen, sonst würden sie ein Verfahren gegen mich eröffnen. 

Am vergangenen Sonntag bin ich dennoch 100 Kilometer in die nächste Stadt gefahren, um zu demonstrieren. Es waren ganz unterschiedliche Leute dort – junge und alte Menschen. Die Polizei fing schon vor Beginn der Veranstaltung an, die Demonstranten festzunehmen. Ich bin hauptsächlich zur moralischen Unterstützung gekommen und habe mich am Rand gehalten. Die Menschen wurden der Reihe nach in Polizeibusse verladen. Ihre Anliegen wurden nicht gehört. 

Ich habe meinen Schülern gesagt, dass sie nicht an den Protesten teilnehmen sollen. Aber ich konnte ihnen ansehen, wie interessiert sie an den Ereignissen sind und dass auch sie immer unzufriedener werden. Das System selbst drängt die Menschen dazu, radikaler zu werden. Der Unmut in der Gesellschaft wird immer größer. Früher oder später wird das System unter diesem Gewicht zusammenbrechen. Man kann die Menschen nicht ewig in Angst halten.

In unserer Kleinstadt haben junge Menschen keine Perspektiven, gar keine. Man geht zur Armee und dann wird man entweder Polizist oder Wachmann in einem näheren Gefängnis. Es ist hoffnungslos. Ich lebe seit ein paar Jahren hier. Doch aufgrund des Drucks, den die Polizei und mein Arbeitgeber auf mich ausüben, muss ich wahrscheinlich weggehen. Dabei möchte ich weiter in dieser Region bleiben, das ist doch meine Heimat.

"Ich bin gegen die Willkür der Polizei und gegen die Regierung"

Maria, 27, St. Petersburg, PhD-Studentin

Politikverdrossenheit führt dazu, dass wir zu Komplizen des gegenwärtigen Regimes werden. Ich fühle mich deshalb verpflichtet, an den Protesten teilzunehmen. Die Aktion am vergangenen Sonntag war im Gegensatz zum Wochenende davor sehr gut koordiniert. Als die Polizei das letzte Mal die Menge vom Newski-Prospekt abschottete, herrschte allgemeine Verwirrung. Niemand von uns wusste, wohin wir gehen sollten. Diesmal war es anders. Wir zerstreuten uns in alle Richtungen, als die Polizei kam. Eine ältere Frau öffnete die Tür zum Hof und sagte: "Kommt hierher!" So konnten wir einer Festnahme entgehen.

Ich wollte mich schon lange gegen die Gesetzlosigkeit in Russland aussprechen, aber der Protest der letzten Jahre konzentrierte vor allem auf Moskau. Ich glaube, die Menschen in St. Petersburg wollen, dass sich die Stadt verändert, und sind jetzt bereit, mit ihren Forderungen auf die Straße zu gehen und laut zu werden.  

Ich bin nicht dafür, dass Nawalny morgen Präsident wird. Mir geht es darum, dass sich die Menschen politisieren. Durch unseren Protest auf den Straßen können wir das erreichen. Ich bin für Demokratie, gegen die Willkür der Polizei und gegen die derzeitige Regierung. 

Viele junge Menschen sind bei den Protesten dabei. In St. Petersburg sind ihre Zukunftschancen begrenzt. In anderen Regionen ist es noch schlimmer, aber die Gehälter in der Wissenschaft sind hier zum Beispiel viel zu niedrig. 

Meine Mutter und meine Freunde hätten gerne teilgenommen, aber sie hatten Angst. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und bin am Sonntag alleine zur Demonstration gegangen. Ich bin mir sicher, je mehr Kundgebungen es gibt, desto besser werden wir wissen, wie wir uns verhalten müssen, wenn die Polizei kommt. Dieses Mal haben wir es sogar geschafft, wieder eine Kette zu bilden, nachdem wir uns zerstreut hatten. Ich habe so viel Begeisterung und Solidarität gespürt in diesem Moment. 

Ich hoffe, dass die Proteste fortgesetzt werden und wir unser Ziel erreichen: faire Wahlen und die Einhaltung der Verfassung. Ich bin Optimistin. Irgendwann werden wir so viele sein, dass es nicht genug Plätze mehr in Polizeibussen für uns gibt.

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