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Wenn der Krieg Liebende trennt | 23.03.2022

Der russische Angriff auf die Ukraine hat das Leben russisch-ukrainischer Paare verändert. Wie gehen sie mit der neuen Situation um? Zwei junge Paare haben der DW ihre Geschichte erzählt.

"Es ist gefährlich spazieren zu gehen, niemand kann einem garantieren, nicht erschossen zu werden", erzählt Rita. Die 22-Jährige lebt im Zentrum von Kiew und sitzt seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine meistens zu Hause. Mit Lebensmitteln habe sie sich rechtzeitig eingedeckt, aber wegen des Stresses habe sie kaum Appetit. Zumindest schlafe sie inzwischen wieder besser: "In den ersten Nächten des Krieges hatte ich Angst, überhaupt einzuschlafen. Aber ich habe mich daran gewöhnt, dass Tag und Nacht Sirenen heulen. Dann muss man eigentlich runter in den Luftschutzkeller. Aber manchmal gehe ich nicht mehr dorthin, weil ich fest schlafe."

Rita wollte gerne ins Ausland gehen, doch jetzt will sie in Kiew bei ihren Eltern bleiben. "Das ist eine starke Entscheidung, die ich anfangs nicht nachvollziehen konnte", sagt Andrej. Ritas Freund ist 26 Jahre alt und lebt in der russischen Hauptstadt Moskau. Er hatte ihr geraten, mit der ganzen Familie irgendwo hinzufahren. Er würde später nachkommen. Doch dies sei nun, so Andrej, zu gefährlich, weil man unterwegs beschossen werden könnte.

"Ob wir nach dem Krieg zusammen sein werden, ist ungewiss"

Treffen kann sich das Paar derzeit nicht, aber beide stehen in einem ständigen Kontakt. Dabei versuchen Rita und Andrej, nicht über Politik zu sprechen. "Anfangs hatte er mir russische Nachrichten weitergeleitet und ich schickte ihm unsere. Dann gab es heftigen Streit", erinnert sich Rita. Sie kritisiert, die Menschen in Russland würden sich voller Begeisterung Putin im Fernsehen anschauen, während in der Ukraine im Krieg Kinder sterben würden. Rita gesteht, sie habe derzeit große Angst, dass sie viel Hass empfinde.

Getötete Zivilisten nach den Kämpfen in Irpin bei Kiew

"Ich bin sehr besorgt und mir ist klar, dass das alles vom russischen Volk ausgeht. Krieg ist in unserem Jahrhundert doch etwas Absurdes", sagt Andrej. Aber politische Diskussionen meidet er. "Ich bin kein Politologe und will mich da nicht reinhängen", so der junge Mann.

Rita hingegen will nicht schweigen: "Wenn man Fotos von toten Kindern sieht, dann kann man keine Liebe zu Russland empfinden. Wir hoffen, dass unsere Armee unsere Gebiete zurückerobert." Die junge Frau fügt hinzu, es wäre ihr lieber, Andrej wäre in Kiew und würde alles mit eigenen Augen sehen, "damit er nicht einmal auf die Idee kommt, etwas gegen die Ukraine zu sagen".

Andrej erwidert, er würde sogar als Russe gegen russische Soldaten kämpfen, um Ritas Familie zu schützen. Doch ändern würde sich dadurch nichts, genauso wenig wie durch Anti-Kriegs-Proteste in Russland. "Ich mag nicht, wenn andere Völker uns vorwerfen, untätig und gleichgültig zu sein. Was soll ein einfacher Bürger tun? Wer mit Fahnen und Plakaten auf die Straße geht, bekommt eine lange Haftstrafe. Wem nutzt das?", fragt Andrej.

Beide wünschen sich, es gäbe keinen Krieg, und beide fürchten, der Krieg könnte sie trennen. Rita sagt, sie liebe Andrej, aber sie würde sich schämen, jetzt jemandem in der Ukraine zu sagen, ihr Freund sei Russe. Sie hofft, dass Andrej früher oder später die russische Staatsbürgerschaft abgibt und einen ukrainischen Pass beantragt: "Man sagt, wenn Menschen sich lieben, dann sind sie untrennbar. Aber es gibt etwas, was trennen kann. Wie man jetzt sieht, hat die Nationalität große Bedeutung. Ich werde ihn nicht gegen sein Land aufbringen, und er mich nicht gegen meins. Aber ob wir nach dem Krieg noch zusammen sein werden, ist ungewiss."

"Wir wollen das Gleiche: Ein Leben in Wohlstand"

Doch Rita erinnert sich gerne an die schönen Momente und die gemeinsamen Reisen. Dies halte die Beziehung zusammen. Das Paar hatte sich vor rund einem Jahr über Instagram kennengelernt. "Ich bin zufällig über sie gestolpert, habe einen Like gemacht, dann einen zweiten. Dann sah ich, dass Likes erwidert werden und dann nahm ich Kontakt auf", erzählt Andrej, der als Trader arbeitet. Rita hat vor Russlands Krieg gegen die Ukraine Umweltschutz studiert und zusätzlich als Model gearbeitet. Getroffen haben die beiden sich zum ersten Mal in der Türkei, sind dann in die Ukraine gefahren und haben viel Zeit in Kiew verbracht. Später unternahmen sie Reisen nach Albanien und nach Ägypten.

Dann stellte Rita Andrej ihren Eltern vor, die in Winnyzja leben. Ritas Vater ist, wie sie sagt, ein großer Patriot seines Landes. Der 50-Jährige, der früher Scharfschütze war, will sich unbedingt der ukrainischen Territorialverteidigung anschließen. Ihren Freund Andrej habe er immer gut behandelt, so Rita. "Wir waren auch alle zusammen im Dorf Schtschaslywzewe am Schwarzen Meer", erinnert sich Rita und sagt traurig, dass der Ort in der Region Cherson durch die Kämpfe fast völlig zerstört worden sei.

Im März wollten sich Andrej und Rita eigentlich in Georgien treffen. Doch die Tickets mussten sie verfallen lassen. Denn Rita will nicht weg aus Kiew und wegen der Sanktionen gegen Russland kommt Andrej jetzt nicht weit - mit Rubel und russischen Bankkarten, die im Ausland nicht mehr funktionieren. Ihnen bleibt jetzt nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Vor dem Krieg hatten sie sich vorgenommen, verschiedene Länder zu besuchen und dann zu entscheiden, wo sie zusammen leben würden. Rita spielte sogar mit dem Gedanken, nach Moskau zu ziehen und die russische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Jetzt will sie nicht einmal mehr daran denken. "Wir haben früher nicht über Politik gesprochen, unsere Beziehung basierte auf Liebe, gegenseitigem Respekt und gemeinsamen Plänen", sagt Andrej. Eigentlich würden sie beide das Gleiche wollen: Studieren, eine Familie und Kinder, ein gutes Einkommen sowie ein Leben in Wohlstand.

"Niemand braucht diesen Krieg"

Das Gleiche wollen auch Polina und Pascha. Auch sie können sich jetzt nicht treffen. Bei ihnen ist es umgekehrt. Pascha ist Ukrainer und kommt aus Odessa, und seine Freundin Polina lebt in Moskau. Beide sind 25 Jahre alt und beide sind Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Aufgrund der Pandemie hielt die Glaubensgemeinschaft nur Online-Seminare ab, über die Polina und Pascha sich kennengelernt haben. "Für mich ist es ein wenig ungewöhnlich, wie man sich in eine Person über einen Bildschirm verlieben kann, aber etwas wächst in uns", sagt Pascha. Er ist Student und hält sich derzeit zu einem Auslandssemester in Tschechien auf. Seine Familie befindet sich weiterhin in Odessa. Polina arbeitet als Pädagogin und macht außerdem noch eine Ausbildung als Programmiererin.

Die beiden haben sich noch nie persönlich getroffen. Ihre erste Begegnung war eigentlich in der Ukraine geplant, doch dann kam der Krieg. Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen. "Als das alles begann, war das für uns eine belastende Situation. Aber der Krieg hat uns einander auch näher gebracht, wir sind offener geworden und teilen persönliche Erfahrungen. Wir kennen Menschen in beiden Ländern, die sich umeinander Sorgen machen. Niemand braucht diesen Krieg", sagt Pascha. Er hilft ukrainischen Flüchtlingen in Tschechien und sammelt humanitäre Hilfe.

Polina bezeichnet den Krieg als "ein sehr schwieriges Thema" und versucht, mit niemandem darüber zu reden. Aber ihr Glaube helfe ihr, auch mal Ruhe zu finden. "Ich möchte, dass das alles schnell und friedlich endet", sagt die junge Frau. Sie betont, dass sie natürlich gegen den Krieg sei, aber zugleich sehr eingeschüchtert sei.

Das Paar telefoniert jeden Tag miteinander. Pascha ist sich sicher, dass er seine bessere Hälfte gefunden hat. "Wenn man sich zusammen gut fühlt, muss man sich keine Themen einfallen lassen, alles kommt von alleine", sagt er. Beide betonen, sie hätten denselben Geschmack, Sinn für Humor, die gleichen Interessen und Lebenspläne. Polina und Pascha wollen studieren, reisen und eine Familie gründen.

"Ich habe ihr angedeutet, dass ich gerne eine Tochter will. Noch sind das Zukunftspläne und das mag wie ein Flirt in einer Beziehung klingen. Aber das hilft uns, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verspüren", erzählt Pascha und fügt hinzu, "Wir wollen unser Treffen nicht weiter aufschieben, aber das ist jetzt so schwierig geworden." Polina glaubt aber, dass sie es schaffen werden.


(Alle Namen im Text wurden geändert)
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk Zum Original