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Wie Russen wegen des Wegzugs westlicher Firmen ihre Jobs verlieren | 06.05.2022

Lebensgrundlagen und Zukunftspläne sind dahin: Immer mehr Russen verlieren wegen der westlichen Sanktionen ihre Arbeit. Geschichten junger Menschen, die vom Wegzug westlicher Firmen betroffen sind.

Bis Mitte Januar jobbte Alexander (Name geändert) noch in einer Fabrik und verdiente mit 12-stündigen Nachtschichten um die 35.000 Rubel (480 Euro) pro Monat. Eigentlich wollte der 22-Jährige Student aus der Region Saratow Pilot werden, was aber aus gesundheitlichen Gründen nicht ging. Deshalb entschied er sich für den Beruf des Flugbegleiters.

Anfang des Jahres stieß er auf eine Ausschreibung einer russischen Fluggesellschaft und bewarb sich sofort. Das Vorstellungsgespräch und auch einen Test in Wolgograd brachte er mit Erfolg hinter sich. Seinen Job in der Fabrik hatte er zu dem Zeitpunkt schon gekündigt. Die Fluggesellschaft bot ihm gute Konditionen - eine Ausbildung in Moskau und danach eine Anstellung mit einem Monatsgehalt von rund 100.000 Rubel (1370 Euro).

Doch zu der Ausbildung kam es nicht mehr. Am 24. Februar begann Russlands Angriff auf die Ukraine - und ausländische Unternehmen begannen, den russischen Markt zu verlassen. Hinzu kamen Sanktionen des Westens gegen Hunderte Personen und Firmen, darunter auch in der Luftfahrt. Zudem sperrte der Westen seinen Luftraum für russische Flugzeuge und verbot den Verkauf, die Lieferung und den Transfer von Flugzeugen und Ersatzteilen nach Russland. Leasinggesellschaften zogen daher ihre Maschinen ab. Zwar geben russische Firmen ihre geleasten Flugzeuge trotzdem nicht zurück, doch diese bedienen jetzt nur noch wenige Strecken im Inland.

Alexanders Ausbildung und die spätere Anstellung wurden gekündigt. Sich bei anderen Airlines zu bewerben, mache keinen Sinn mehr, findet er: "Die Flugzeuge werden nicht normal gewartet, Ersatzteile werden nicht geliefert, daher ist auch unklar, in welchem ​​Zustand die Maschinen fliegen. Die Risiken sind mir zu groß."

Wirtschaft fällt in die 90er Jahre zurück

Tatjana Michajlowa, Ökonomin und Dozentin an der Russischen Wirtschaftsschule in Moskau weist darauf hin, dass die Sanktionen langfristige Auswirkungen haben werden, darunter der Ausschluss Russlands aus den weltweiten Produktionsketten. Die Beschränkungen würden zu einer Isolierung und technologischen Rückständigkeit führen. "Die Luftfahrtindustrie schreit schon jetzt, sie werde in sechs Monaten keine Ersatzteile mehr haben. Die gleiche Entwicklung wird es in anderen Industrien geben", so Michajlowa. Sie rechnet mit einem Rückfall der russischen Wirtschaft auf das Niveau der 1990er Jahre.

Die Expertin betont, die Sanktionen würden alle Wirtschaftssektoren treffen, die ausländische Komponenten verwenden, wie die Automobilbranche, die Pharmaindustrie und sogar die Landwirtschaft, da Saatgut auch im Ausland eingekauft werde. "Unternehmen werden gezwungen sein, zu schließen und Mitarbeiter zu entlassen. Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen wird zurückgehen, weil die Bevölkerung ärmer wird, und das wird alle Branchen betreffen, bis hin zu den Friseuren", sagt Michajlowa.

Ihr zufolge verlieren schon jetzt viele Russen ihre Jobs oder können keine neuen finden, weil die Nachfrage nach allen Fachkräften sinkt. Die Menschen in Moskau bekommen das laut Michajlowa besonders stark zu spüren, da dort viele in den Bereichen Finanzen, Dienstleistungen, Marketing und Werbung tätig sind. Nach Angaben von Bürgermeister Sergej Sobjanin könnten allein in der russischen Hauptstadt rund 200.000 Menschen durch den Wegzug ausländischer Unternehmen ihren Arbeitsplatz verlieren.

Moskauer vom Jobverlust als erste betroffen

Aljona (Name geändert) aus Moskau ist 19 Jahre alt und arbeitete als Verkäuferin bei der spanischen Modekette Zara. Der Job ließ sich gut mit ihrem Studium verbinden. Anfang März teilte das Unternehmen den Mitarbeitern jedoch mit, dass die Filialen in Russland geschlossen würden und keiner mehr zur Arbeit zu erscheinen brauche. "Meine Kollegen und ich haben damit gerechnet, aber nicht so schnell", sagt Aljona.

Noch bekommt sie zwei Drittel ihres Lohns und auch das Urlaubsgeld für dieses Jahr ausbezahlt. "Meine Situation ist nicht die schlimmste. Ich habe dort nur des Geldes wegen gearbeitet und wollte sowieso bald gehen. Jetzt will ich mich weiterentwickeln und einen Beruf finden, der mir gefällt", erzählt Aljona, die jetzt eine Ausbildung im Bereich Design macht.

Auch Marina (Name geändert) will einen Job, in dem sie sich besser entfalten kann. Die 30-Jährige Moskauerin arbeitet heute im digitalen Marketings. Im Winter bekam sie eine Stelle in einem Unternehmen zugesagt, für das sie schon lange arbeiten wollte. Doch als der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann, hieß es plötzlich von der Leitung, es würden keine neuen Mitarbeiter mehr eingestellt.

Darüber war Marina sehr verärgert. "Natürlich würde ich gerne eine ähnliche Position finden, aber das wird in naher Zukunft unrealistisch sein. Viele Unternehmen bauen Personal ab und allgemein hat die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern stark nachgelassen, vor allem im Marketing", sagt sie. Jetzt gehe es nicht mehr um Selbstverwirklichung, sondern um eine Einkommensquelle. "Man muss sich über jede Möglichkeit freuen, etwas dazuzuverdienen", betont Marina.

Hunderttausende Arbeitslose bis Ende des Jahres

Insgesamt könnten in Russland laut dem Magazin Forbes bis Ende des Jahres mehr als 600.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Der Jobverlust hatte bei Alexander heftige emotionale Auswirkungen: "Wenn ich den Test nicht bestanden hätte, wäre es meine eigene Schuld gewesen, und ich hätte dies wieder gut machen können. Doch es passierte etwas, das ich weder vorhersehen konnte noch ändern kann, und das tut weh." Alexander will sich jetzt erst einmal um ein Studium kümmern und später einen Job suchen. Im Moment helfen ihm seine Eltern mit Geld aus.

Keiner der Gesprächspartner der DW unterstützt den russischen Krieg gegen die Ukraine. Sie alle spielen mit dem Gedanken, Russland zu verlassen. "Es gab abstrakte Überlegungen zu einem Umzug. Aber noch haben wir nicht vor, Russland zu verlassen, doch eine solche Möglichkeit behalten wir im Auge", sagt Marina.

Aljona will zunächst an einer Universität in Russland einen Abschluss machen. Danach will sie nach Deutschland ziehen.

Für Alexander sollte Moskau eigentlich nur eine Zwischenstation sein. "Ich dachte, das wäre etwas mit Perspektive", sagt er. Von dort wollte er weiter ins Ausland. "Aber jetzt ist dies viel schwieriger geworden. Die Preise sind gestiegen, die Gehälter aber gleich geblieben, und die Leute sind damit unzufrieden. Aber sie machen nicht die russische Politik dafür verantwortlich, sondern diejenigen, die Sanktionen verhängen", kritisiert Alexander. Er gibt zu, dass er wirklich weg wolle, aber es falle ihm schwer, darüber zu sprechen.


Einige der Gesprächspartner der DW haben aus Sicherheitsgründen darum gebeten, ihre vollständigen Namen nicht zu veröffentlichen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk Zum Original