1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Mobilmachung in Russland: Feministinnen leisten Männern Fluchthilfe | 24.10.2022

Seit der Mobilmachung hilft Lilija Weschewatowa russischen Kriegsdienstverweigerern, das Land zu verlassen. Sie ist eine von Hunderten Feministinnen, deren Bewegung zu einer politischen Kraft in Russland geworden ist.

Zu Beginn der Mobilmachung in Russland schlief Lilija Weschewatowa wenig. Viele Freunde und Bekannte baten sie, Männern beim Verlassen des Landes zu helfen. Weschewatowa selbst lebt inzwischen in der armenischen Hauptstadt Jerewan und ist Koordinatorin des "Feministischen Antikriegs-Widerstands" (Feministskoje Antiwojennoje Soprotiwlenije - FAS).

Mehr als 222.000 Menschen seien im Rahmen der "Teilmobilmachung", wie es in Russland offiziell heißt, bereits einberufen worden, erklärte jüngst der russische Präsident Wladimir Putin. Mehr als 260.000 Männer haben das Land nach Angaben der "Nowaja Gaseta Europe" seit Ankündigung der Mobilmachung verlassen, um sich einer Einberufung zu entziehen.

Die Flucht von Männern war für die Feministinnen eine neue Aufgabe. "Wir haben beraten, Tickets gekauft, Busse organisiert und Menschen untergebracht", erinnert sich Weschewatowa. "Die meisten Männer reisten zwischen dem 21. und 26. September aus." Mehrere Hundert FAS-Aktivistinnen in Russland und im Ausland seien in die Arbeit involviert. Sie selbst habe 60 Männern geholfen, Russland zu verlassen.

Ähnliches berichtet die FAS-Aktivistin Lelja Nordik über Kriegsdienstverweigerer: "Mich haben Dutzende Menschen kontaktiert, die einer Einberufung in die russische Armee entgehen oder Angehörigen helfen wollten. Ich informierte sie über Menschenrechte und stellte den Kontakt zu Aktivisten her, die eine Ausreise organisieren können. Ich kaufte Flugtickets, suchte Mitfahrgelegenheiten oder vorübergehende Unterkünfte", so Nordik. Sie sagt, die meisten Fluchtwilligen seien längst weg, aber es gebe weitere Männer, die ihre Ausreise noch vorbereiteten.

Als erste hätten Transmenschen oder Personen, die bei Protesten festgenommen worden waren, außer Landes gebracht werden müssen, da sie am stärksten vom Regime bedroht seien, erzählt Weschewatowa: "Es wurde befürchtet, dass Sicherheitskräfte sie mit Einberufungsbescheiden zuhause holen würden."

Helfer hätten die Fliehenden an der russisch-georgischen Grenze abgeholt und in Mietswohnungen von Aktivistinnen untergebracht. "Einige scherzten, sie hätten nun selbst keinen Schlafplatz mehr", erzählt Weschewatowa. Sie ist überzeugt, dass Frauen heute das Fundament der russischen Zivilgesellschaft bilden, weil sie sich schnell zusammentun und wirksam helfen.

Rechtliche, psychologische und materielle Hilfe

Der FAS sei die wichtigste Institution, die die feministische Bewegung in Russland hervorgebracht hat, ist Natalia Kowyljajewa überzeugt. Der Politologin von der Universität Tartu in Estland zufolge gab es Anfang 2022 etwa 57 feministische Gruppen in Russland in etwa 30 Regionen des Landes. Viele von ihnen haben sich schon am 25. Februar, einen Tag nach Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine, zum FAS zusammengeschlossen. Heute ist die Bewegung laut Kowyljajewa in 100 Städten in Russland und im Ausland aktiv.

Auf Telegram hat der FAS derzeit mehr als 40.000 Follower. Seine Mitglieder organisieren Proteste gegen den Krieg, tragen auf der Straße schwarze Kleidung, verbreiten Anti-Kriegs-Memes in sozialen Netzwerken, schreiben "Nein zum Krieg" auf Rubelscheine und geben die Zeitung "Schenskaja Prawda" (Frauen-Wahrheit) heraus. "Die 'Schenskaja Prawda' ist eine unabhängige Anti-Kriegs-Zeitung, die man, ohne sich schämen zu müssen, Müttern und Großmüttern zeigen kann", heißt es auf Twitter, wo die Zeitung zum Download angeboten wird.

Die FAS-Aktivistinnen führen auch Aktionen wie "Mariupol 5000" durch. Dabei stellten sie in Innenhöfen von Häusern in Russland Hunderte Gedenksteine für die in der ostukrainischen Stadt getöteten Menschen auf. "Feministinnen leisten Flüchtenden rechtlichen, psychologischen und materiellen Beistand, unterstützen sie beim Umzug und betreuen Aktivistinnen, die physisch ausgebrannt sind", erzählt Kowyljajewa.

Feministinnen wurden nicht ernst genommen

Die Bewegung ist horizontal organisiert und Aktivistinnen können in jeder Stadt einen eigenen Verband gründen. "Das macht den FAS anpassungsfähiger und ermöglicht neue Taktiken und Strategien. Die Hydra hat mehrere Köpfe, und wenn man einen abschneidet, wachsen zehn neue nach", sagt Natalia Kowyljajewa. Sie meint, der FAS hebe sich von anderen Initiativen auch durch kreative Formen des Protests ab: "Die Feministinnen sprechen die Menschen in einem für sie verständlichen Format an und thematisieren den Krieg und die Folgen in einer für große Teile der Bevölkerung verständlichen Sprache."

Die Forscherin gibt jedoch zu, die Haltung gegenüber Feministinnen in Russland sei immer sehr negativ gewesen. Nur wenigen sei klar, wofür sie überhaupt stehen: "Es ist schwierig zu sagen, inwieweit sich die Einstellung jetzt geändert hat, aber die Feministinnen haben mit großen Teilen der Bevölkerung eine gemeinsame Basis gefunden", glaubt Kowyljajewa. Ihrer Meinung nach ist der FAS zu einer spürbaren politischen Kraft geworden, die gegen Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus eintritt. "Während das Putin-Regime andere Oppositionskräfte zerschmetterte, nahm die Feministinnen niemand ernst, auch nicht Oppositionspolitikerinnen", so die Forscherin. Doch die Feministinnen hätten nach und nach ein Netzwerk aufgebaut.

Im Vordergrund steht jetzt die Informationsarbeit

Mittlerweile aber, sagt Aktivistin Weschewatowa, hätten viele Aktivistinnen Russland verlassen, weil sie nach den Anti-Kriegs-Protesten im Februar Haftstrafen abgesessen hätten und sich der Gefahr weiterer Inhaftierungen entziehen wollten. Sie selbst sei zweimal festgenommen worden, worauf sie im März nach Jerewan zog. Das Exil ermögliche ihnen aber, die Koordinierung und eine sichere Arbeit fortzusetzen, so die FAS-Koordinatorin.

Seit die Zahl der Einberufungsbescheide rückläufig ist, konzentrieren sich die FAS-Aktivistinnen darauf, die Russen zu informieren. Sie rufen dazu auf, keine Bescheide entgegenzunehmen und den Rekrutierungsämtern fernzubleiben. Doch die Lage sei traurig und schwierig, sagt Weschewatowa: "Die männliche Geschlechtersozialisation sitzt in den Köpfen und einige Mütter reden ihren Söhnen sogar ein, sie seien Feiglinge und Deserteure, wenn sie nicht in den Krieg ziehen."

In der Vergangenheit seien russische Feministinnen durchaus auch von so manchem Mann beleidigt worden, sagt Weschewatowa, betont aber: "Wenn Menschen in Not sind und vor dem Tod fliehen, ist es nicht ganz korrekt, sie an ihr vergangenes Verhalten zu erinnern. Außerdem stehen hinter jedem der Männer, die wir aus Russland herausholen, Frauen - Mütter, Ehefrauen, Schwestern - und auch Kinder."


Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk Zum Original