Arbeit&Wirtschaft: Sie haben sich vor 40 Jahren der Wissenschaft verschrieben. Wie definieren Sie Ihre Aufgabe als Wissenschafterin? Birgit Sauer: Als Wissenschafterin habe ich den Auftrag, das Wissen, das ich aus der Forschung gewinne, wieder in die Gesellschaft hineinzutragen und damit Gesellschaften in Richtung mehr Gleichheit und Gleichberechtigung voranzutreiben. Das Wissen soll also eine gewisse gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Diese Wissensverbreitung erfolgt zum Beispiel über die Lehre an der Universität. Die ist ganz wichtig, weil man ganz viel Wissen aus der eigenen Forschungsarbeit an nächste Generationen weitergibt. Ich kann Wissen aber auch über Medien vermitteln. Oder es gibt viele Organisationen und NGOs, die gleichstellungsorientiertes Wissen nachfragen. Dort kann ich beispielsweise Wissen in Form von Fortbildungen vermitteln.
Das berühmte „Bier danach"? Genau. Ein Austausch beim Bier danach oder nach dem Kolloquium oder auf Tagungen. Diese Netzwerke sind tendenziell noch immer homosozial. Andererseits haben Frauen es viel schwerer aufgrund ihres ansozialisierten Habitus, der sie nicht gleich losschreien lässt: „Ich bin auch noch da! Ich bin auch toll!" Männer machen das viel eher. Die sind einfach viel lauter und trauen sich mehr, sich in den Vordergrund zu stellen. Sie werden vor allem weniger negativ sanktioniert für ein solches Verhalten. Das sind feine Mechanismen, durch die Frauen ausgeschlossen werden oder einen schwereren Zugang haben.
Es gibt doch Gesetze und eine Quotenregelung ... Ja, wir haben in Österreich ein Bundesgleichbehandlungsgesetz. Das Gesetz sagt: Bei gleicher Qualifikation dürfen Frauen bei Stellenbesetzungen bevorzugt werden. Durch diese Regelung ist die Anzahl von Professorinnen bereits gestiegen. Der springende Punkt ist aber: Was ist eigentlich gleiche Qualifikation? In den letzten zehn Jahren hat sich viel im Wissenschaftsbereich verändert. Es wird ganz viel auf die Quantifizierung von wissenschaftlichen Leistungen abgezielt. Das heißt: Ich veröffentliche nicht einen Artikel und der hat einen klugen Gedanken, der überall diskutiert wird und vielleicht innovativ ist. Nein, ich veröffentliche einen Artikel und der hat eine Maßzahl, den Impact-Faktor. Obwohl man meinen kann, das ist ja ganz objektiv, zeigt sich: Da fallen Frauen raus, weil die Publikationskartelle männlich sind und Frauen eher rausdrängen - nicht, weil Frauen schlechter wären, sondern weil es wieder auf die Netzwerke ankommt. Als junge Forscherin kann ich kaum allein in ein hoch geranktes Journal reinkommen, da brauche ich einen Mentor oder eine Mentorin. Da haben wiederum männliche Jungwissenschafter eher einen Mentor. Zieht man dies in Betracht bei Berufungsverfahren für Professuren, dann braucht es in den Berufungskommissionen Menschen mit einem „Gleichbehandlungsführerschein", die also für geschlechterdiskriminierende Strukturen sensibilisiert sind. Man darf doch auf der Straße auch nicht einfach so rumgondeln ohne Führerschein. Warum soll man also Karrieren gefährden durch Menschen, die gar nicht für Gleichbehandlung sensibilisiert sind?
Sie selbst sind eine Pionierin, ein Role Model in den Wissenschaften. Welches Rezept haben Sie für andere Frauen? Mein Rezept war immer: Netzwerke! Netzwerke von Frauen. Und das war total wichtig für meine eigene Biografie. In den Netzwerken kann man sich vieles geben, was man aus dem männlichen Umfeld eher nicht bekommt. Man kann sich selbst Ermutigung, Feedback und Zuspruch geben. Man kann sagen: „Das ist toll, was du da gemacht hast." Oder: „Bewirb dich da unbedingt!" In weiterer Folge kann man über so ein Netzwerk selbst in eine Machtposition kommen, wo man entscheiden kann und Frauen fördern kann. Und in Netzwerken können auch Alternativen zum Wissenschaftsbetrieb entwickelt werden.
Ich sehe durchaus, dass die Sozialwissenschaften potenziell bedroht sein können. Sozialwissenschaften sind eher „weiche" Wissenschaften - sie arbeiten also ganz viel qualitativ -, und die sind in Zeiten von Quantifizierung und Vermessung stärker von finanziellen Streichungen betroffen. Allerdings trifft es derzeit auch „harte" Naturwissenschaften, wenn PolitikerInnen den Klimawandel leugnen und die Daten dazu als manipuliert darstellen. Macht ist ein wichtiges Stichwort. In populistischen Regierungen, in den USA aber auch in Europa, werden wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend als alternative Fakten verleumdet. Wie mächtig sind solche Angriffe auf die Wissenschaft? Aber ich glaube, alle Wissenschaften, die sich mit sozial- und gesellschaftspolitischen Themen beschäftigen, sind gefährdet. Denn sie generieren Wissen, um zu verändern, was sie für problematisch halten - sei dies Erderwärmung oder Klimawandel oder steigende Ungleichheit zwischen Arm und Reich oder zwischen Frauen und Männern. Sobald Wissenschaft den Anspruch hat, gesellschaftsveränderndes Wissen zu Verfügung zu stellen, kommt die Keule: „Das ist alles nur Fake. Das sind ja alles nur alternative Fakten, das müssen wir nicht glauben. Und wir müssen nichts ändern."
Eine lebendige Demokratie kann nur existieren, wenn sie immer wieder Möglichkeiten zur eigenen Reflexion zur Verfügung stellt, also immer wieder auch darüber nachdenkt: Wie sind jetzt die Verfahren in der Demokratie? Funktionieren sie so, wie sie funktionieren sollen? Um ein Beispiel zu geben: In Österreich gibt es immer wieder die Debatte um ein Mehrheitswahlrecht anstelle des Verhältniswahlrechts. Dazu habe ich schon vor langer Zeit auch mit anderen Feministinnen gesagt: Das ist ein Problem, denn das Mehrheitswahlrecht fördert Männer in der Politik. Es hat eine Weile gedauert, bis Juristen, die sich damit beschäftigten, gesagt haben: Das leuchtet uns ein. Jetzt suchen wir eben nach Mehrheitswahlmöglichkeiten, die strukturelle Minderheiten, wie es Frauen sind, nicht von vornherein benachteiligen. Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt, dass wir Institutionen oder Normen wie das Wahlrecht immer wieder reflektieren müssen und dass dadurch zum Beispiel Wahlsysteme gendergerechter und frauengerechter konturiert werden können. Dazu braucht es Wissenschaft. Was bedeutet es für eine Gesellschaft und eine Demokratie, wenn ich bestimmten Studienfächern Geld abziehe, nur weil sie nicht dem Geschmack der Regierung entsprechen? Ein weiteres Beispiel sind Fragen von Migration und Integration. Das ist ein schwieriges Feld, für dessen Erforschung viel mehr Gelder nötig wären. Wenn es zu wenige Forschungsgelder gibt - und das ist leider zu befürchten -, dann wissen wir über ganz viele Bereiche der Migration nicht Bescheid und produzieren Ausschluss. Eine Demokratie kann so nicht wirklich gut funktionieren.
Worin liegen die größten Herausforderungen für die Wissenschaft in den nächsten Jahren? Für die Politikwissenschaft würde ich schon sagen, dass der Trend hin zu rechten und autoritären Parteien eine sehr große Herausforderung ist. Da muss noch viel mehr Ursachenforschung betrieben werden. Ich unterstelle WählerInnen rechter Parteien nicht automatisch, Nazis oder Rassisten zu sein. Aber zu sagen: „Naja, das ist jetzt mal eine Protestwahl. Warten wir ab bis zur nächsten Wahl", hilft uns nicht weiter. Weil ich schon denke, dass sich mit dem neoliberalen Umbau der letzten 20 bis 30 Jahre, der ja in Osteuropa ganz brutal gekommen ist, gesellschaftliche und politische Verhältnisse dramatisch geändert haben. Dies hat die Menschen verunsichert und Ängste provoziert, was den eigenen Wohlstand oder den Wohlstand der Kinder angeht. Rechte Akteure schlagen vor, diesen Ängsten mit nationaler Abschottung zu begegnen. Wir sind aber im Zeitalter der Globalisierung. Da ist es unmöglich, Grenzen zu schließen. Wer nationale Lösungen vorschlägt, macht also den Bürgern und Bürgerinnen etwas vor. Man muss demgegenüber ganz andere Politikformen entwickeln. Der Klimawandel beispielsweise hält sich sowieso nicht an Nationalstaatsgrenzen. Aber das Bewusstsein über notwendige Maßnahmen gegen Klimaveränderungen ist nicht sehr hoch, obwohl wir das doch jetzt schon mit den Stürmen und mit den Überschwemmungen merken, aber das wird irgendwie verdrängt. Da wäre es interessant herauszufinden, woran das liegt und welche Strategien man entwickeln kann, damit Leute sehen: Da muss was gemacht werden! Und die Initiativen, die es gibt, müssen auch durchsetzbar sein. Wir haben ja bereits Politiken gegen den Klimawandel, nur geschieht da nichts. Weil Leute wie Herr Trump sagen: „Das ist ja völliger Quatsch. Alles nur alternative Fakten."
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Zur Person Birgit Sauer ist seit 2002 Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien und damit eine der Pionierinnen unter den Professorinnen in Österreich. KollegInnen bezeichnen sie als „Titanin der Gender Studies". Politisiert und sozialisiert in der Frauenbewegung in Deutschland, forscht Birgit Sauer vor allem zu Governance und Geschlecht, Politik und Geschlechterverhältnisse sowie Politik und Emotionen. Am 6. November 2017 hat sie den Wissenschaftspreis der Margaretha-Lupac-Stiftung für ihr wissenschaftliches Gesamtwerk und ihre Arbeit in der Geschlechterforschung erhalten.