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Material Essence: Form Follows Fabric

Material Essence Another Austria - London im Februar 2017 (c) Polimekanos



Die Globalisierung hat den Innenstädten der Metropolen ein zunehmend gleichförmiges Äußeres verliehen und die historisch gewachsene Identität in den Hintergrund gedrängt bzw. auf den musealen Raum verwiesen. Selbst den Bewohnern einer Stadt sind die lokalen kulturellen Eigenheiten oft nur mehr aus Überlieferungen bekannt. Die Donaumetropole Wien ist in dieser Hinsicht etwas anders. In ihrer widerständigen Art hat sie nach wie vor viel an ‚obsolet Gewordenem’ zu bieten. Relikte aus der vergangenen Welt der Habsburgermonarchie und der Volkskunst des Alpenraums sind allgegenwärtig. Bindeglied dieser Stadt-/Land-Kultur waren vor allem die männlichen Repräsentanten der Adelshäuser, die sich mit dem Lodenjanker die Jagdbekleidung der Jäger aneigneten, die sie auch in der Stadt trugen.

erschienen in der Broschüre  MATERIAL ESSENCE Another Austria
Local/Global: International Fashion Showcase im Feber 2017 in London
Kuratiert von Claudia Rosa Lukas

Kulturelle Eigenheiten, die die nach Inspiration suchende Kreativindustrie gerne nutzt. Wobei es weniger der Mythos ist, der interessiert, als die vergangene Handwerkskultur, die in Antiquariaten, Archiven und den Beständen aufgelassener Ateliers von Modisten und Handschuhmachern dokumentiert ist. Ein Teil dieser Tradition lebt in den zeitgenössischen Couture Ateliers weiter. Als ‚Stadt der Bälle’ hat Wien den Glamour aus kaiserlichen Zeiten in die Gegenwart mitgenommen und bietet lokalen Couture Ateliers ein auf Handwerkstradition basierendes Beschäftigungsfeld fernab der profanen Alltagsbekleidung. Dass Materialien und Handwerkstechniken einer verblassten Handwerkskultur auch auf zeitgenössische Alltagskleidung anwendbar sind, zeigt eine Formation junger Modeschaffender, die sich an globalen Modemarktplätzen orientiert. Glamour ist dabei eher die Ausnahme als die Regel. Vielmehr ist es die Wiederentdeckung ursprünglicher Materialien aus einer Zeit, als sich die Kleidertracht zwangsläufig aus den Mitteln der Landschaft ergab: Leder, Flachs, Wolle und Farben aus natürlichen Rohstoffen wie Kalk und Nussschale. Bei der Wiederentdeckung natürlicher Färbemethoden geht es zum einen um eine einzigartige Farbwirkung und zum anderen um Aspekte wie Gesundheit und Tragekomfort. Anders bei ursprünglichen Materialien, deren Reiz vor allem in Ästhetik und Funktion gesehen wird. Die anhaltende Faszination für den Loden dürfte dem rauen Klima der Alpenregion geschuldet sein. Aus Schafwolle gewonnen, steht das ursprüngliche Material für einen rauen Charme und die natürliche Funktion der Wind- und Wasserresistenz bei gleichzeitiger Atmungsaktivität. Zuletzt wurde Loden vom in Mailand lebenden Designer Arthur Arbesser und dem in Wien ansässigen Accessoire Label Sagan Vienna aufgegriffen. Im Showcase ist es Sabrina Stadlober, die damit arbeitet und darin das geeignete Material für Unisex Outdoorjacken sieht. Inspiriert an Ritterrüstungen erforscht sie deren schützende Aspekte.
 
Ein weiteres Material, das die Designer in ihren Bann zieht, ist Blaudruck, der als eine der ältesten Drucktechniken der Trachtenmode gilt. Das zeitaufwändige Handdruckverfahren basiert auf alten Modeln und der Farbe Indigo und soll ursprünglich im asiatischen Raum    entwickelt worden sein. In Europa fand es als günstige Alternative zu kostbaren Webmustern wie Brokat Verbreitung. Indem die Modeschaffenden die Technik nicht traditionell auf Dirndlkleidern vorbehaltenen Stoffen anwenden, sondern auf Leder und Denim, wird der Stil in einem zeitgenössischen Kontext neu ausverhandelbar. Showcase-Teilnehmer Ilija Hvala schätzt am Blaudruck die Farbe Indigo und den Kontext zur Kleidung der Arbeiterklasse, die eine wichtige Inspirationsquelle für ihn darstellt.
Parallel zur Rückbesinnung auf traditionelle Textilien setzt sich zunehmend auch die etwas gewagtere Referenz auf Rohstoffe und Fertigungstechniken aus anderen Disziplinen durch. Ein Material, das wieder viel Aufmerksamkeit erhält, ist das sogenannte ‚Wiener Geflecht’ aus Rattan, das mit dem 1859 von Thonet designten Stuhl ‚N°14’ zu einer Ikone der Wiener Kaffeehauskultur wurde. Zusätzliche Bekanntheit erreichte die ikonische Textur 1929 durch das Stuhlmodell ‚S32’ von Bauhausdesigner Marcel Breuer. Anders als der Name vermuten lässt, soll das ‚Wiener Geflecht’, das auch als Achteck- und Wabengeflecht bezeichnet wird, aus Indien stammen. Die Flechtkonstruktion, die neben jeweils zwei Kett- und Schussfäden auch jeweils einen Diagonalfaden umfasst, wird wegen ihrer Robustheit und Formtreue geschätzt. Wie Showcase-Teilnehmer Raphael Caric herausfand, ergeben sich durch die Interpretation in textilen Fasern interessante Anwendungsmöglichkeiten auf Bekleidung.
Als Schmuckdesignerin versucht Showcase-Teilnehmerin Lauren Cooke in ihrem Label Heirs durch die Kombination von alten und neuen Materialien und Herstellungstechniken neue Designmöglichkeiten zu definieren. So arbeitet sie etwa mit einer innovativen Plattierungsmethode, die sich durch Dauerhaftigkeit auszeichnet, genauso wie mit Handgravuren, die dem Prinzip der Dauerhaftigkeit sowohl auf handwerklicher als auch auf symbolischer Ebene entsprechen.
 
Die traditionellen und fast vergessenen Materialien sind mit Referenzen aufgeladen, die auf den lokalen kulturellen Heritage hinweisen, aber auch auf globaler Ebene verstanden werden, weil sie in ihrer universellen Technik in mehr als nur einer Region gebräuchlich waren. Durch die Reinterpretation erscheint Überkommenes in einem zeitgenössischen Rahmen, ist aber nicht flüchtig rezipierbar wie z.B. ein Burger, der zur Ikone für ein globales Essverhalten wurde, sondern braucht Auseinandersetzung, wie die ‚Kaisersemmel’, die Teil der lokalen Backtradition ist und deren majestätischer Status vom Erfinder im 18. Jht. aufgrund des erhöhten Krustenanteils gefordert wurde. Dass auch die handwerkliche Herstellung eine Kunst ist, zeigt das österreichisches Label Rosa Mosa, das der Kaisersemmel in Form einer Geldbörse eine neue Bedeutung verlieh. Indem eine ursprünglich in Germteig kreierte Form in Leder nachgebildet wird, offenbart sich eine durchaus humorvolle Annäherung an eine alte lokale Handwerkstechnik.
 
Darüberhinaus zeigt sich in der Rückbesinnung auf Traditionelles aus lokalen Quellen und der Integration handwerklicher Aspekte auch ein neues Designbewusstsein, das nicht mehr nur durch die oberflächliche Gestaltung zu definieren ist, sondern ein grundsätzliches Verständnis von Funktion und Anwendung voraussetzt. Durch die Entscheidung für den rauen Loden, die ikonische Textur eines Kaffeehausstuhls und die - im Vergleich zu kostbaren Webmustern - schlichte Blaudrucktechnik, zeichnet sich auch eine Abkehr vom konventionellen Luxusbegriff ab und ein Interesse an Einfachheit, Robustheit und Dauerhaftigkeit.

Weblinks:
http://www.austrianfashion.net/index.php?option=com_content&task=view&id=2101&Itemid=37
 http://polimekanos.com/projects/another-austria-2017/
www.anotheraustria.com


english version by Helene Hauglin Lundheim

Another Austria
Local / Global: Material Essence
 
Form Follows Fabric
 
Globalisation has given the metropoles’ inner cities an ever-increasing uniform look, marginalised their historically developed identities and referred them to the museum realms. Even the cities’ own inhabitants are often only made aware of cultural characteristics through mediation. The Danube metropolis Vienna is somewhat different in this regard. In its withstanding way, it still has a lot of ‘obsolete becamers’, to offer. In particular, these are relics from the bygone Habsburg monarchy and folklore art from the Alpine region. Male aristocrats who downtown wore the so-called Loden janker, a typical hunter’s wear, thus linked the culture of the city with that of the country.
 
Cultural characteristics, to which the creative industry looks for inspiration. Although the myth excites less interest than the past craftsmanship, as it is found in antique shops, archives and abandoned inventories in fashion houses’ and glovers’ studios. Part of this tradition can still be found in today’s couture studios. Vienna, as the 'City of Balls', has taken the glamour of imperial times into the present and grants a craftsmanship tradition far from profane everyday wear. Yet materials and techniques from a fading craft culture are also applied in contemporary everyday wear design as attested by a generation of fashion designers who orient themselves towards global fashion markets. Here glamour is the exception rather than the rule. More so is the rediscovery of original materials from a time when costumes necessarily emerged from local offerings; leather, flax, wool and colours from natural raw materials such as limestone and nutshell. The rediscovery of natural colouring methods entails a unique colour effect on the one hand, and aspects like health and wearing comfort on the other. Unlike the colours the appeal of original materials is primarily found in the aesthetics and function. The continuing fascination for the Loden could be ascribed to the Alpine region’s harsh climate. Made from sheep wool, the original brings about rough charm and natural wind and water resistance as well as breathability. Loden was last picked up by Milan-based designer Arthur Arbesser and the Vienna-based label Sagan Vienna. In this showcase Sabrina Stadlober works with the material, which she finds suitable for unisex outdoor jackets. Inspired by knight’s armours, she explores its protective aspects.
 
Another material that captivates the designers is blueprint, one of the oldest printing techniques in costume fashion. The elaborate manual printing process is based on old models and the indigo colour, and was originally developed in Asia. In Europe, it became a favourable alternative to expensive woven patterns such as brocade. Fashion designers have applied the technique to other fabrics than those reserved for Dirndl costumes. By using leather and denim, they re-negotiate the style in a contemporary framework. Showcase participant Ilija Hvala has an affinity for the indigo colour used in the blueprint technique - and the working class context it renders. Elements of working class clothing are an important source of inspiration to him.
As traditional textiles see a return, a somewhat more daring reference to raw materials and production techniques from other disciplines is also becoming increasingly popular. A material that receives a great deal of attention is the so-called ‘Viennese wickerwork’ made of rattan. With the ‘N° 14’ chair designed by Thonet in 1859 it became a Viennese coffee house culture icon. The characteristic texture gained further recognition through Bauhaus designer Marcel Breuer’s model chair ‘S32’ in 1929. Contrary to what its name suggests, the ‘Viennese wickerwork’, also known as octagonal and honeycomb pattern, is said to come from India. Characteristic for the texture design which includes a diagonal thread for every two warp and weft threads, is its robustness and contour accuracy. Showcase participant Raphael Caric found out, textile fibre interpretation allows for interesting clothing applications.
As a jewellery designer, showcase participant Lauren Cooke (Heirs) seeks to define new design possibilities by combining old and new materials and manufacturing techniques. She incorporates an innovative plating method known for its durability, as well as traditional hand engravings. Hand engravings represent the craftsmanship and principle of durability not solely on a material but also on a symbolic level.
 
The traditional and near forgotten materials are loaded with references to the local cultural heritage, but should also be seen within a global scope as their universal techniques were always commonly in use in more than just one region. Their legacy appears in a contemporary framework through reinterpretation and is not as fathomable as, for example, a burger, which has become an icon for global eating habits. The reinterpreted legacy is in need of deciphering, more like the ‘Kaisersemmel’, a typical bread roll with a name that refers to Imperial Austria and is representative of local baking traditions. Its inventor promoted the majestic in its character due to the high crust content. As it turns out also the design of the ‘Kaisersemmel’ is a form of art. Bestowing it a new meaning, the Austrian label Rosa Mosa applied the principle to a wallet. By imitating a shape originally created with a yeast dough, their leather imperial emblem reveals a humorous approach to an old local craftsmanship technique.
 
With the return to tradition in local sourcing and integration of traditional craftsmanship, a new awareness of design has emerged. Far from being defined by its exterior only, it calls for a basic understanding of function and application. Opting for the rough Loden, the iconic texture of a coffee house chair and the plain – at least in comparison to precious woven patterns – blueprint, means a certain renunciation of a conventional concept of luxury and an acquired interest in simplicity, robustness and durability.

Weblinks:
http://www.austrianfashion.net/index.php?option=com_content&task=view&id=2101&Itemid=37
 http://polimekanos.com/projects/another-austria-2017/
www.anotheraustria.com
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